1980 Die Ibiza-Spur (SM)
den rückwärtigen Fenstern des Lokals sie dazu verführen können, an Venedig zu denken oder an die Grachten von Amsterdam, dicht unter ihren Augen lag der Nikolaifleet, dessen im Abendwind bewegtes Wasser gegen die Pfähle der Anlegebrücke schwappte.
Es gab sogar Schiffe da draußen unter den Fenstern. Ein bunt bewimpelter Ausflugsdampfer glitt vorbei. Drüben, am anderen Ufer, waren ein paar ausrangierte Schuten vertäut, und die alten Speicher hinter ihnen mit ihren dunkelroten Backsteinfronten, den Luken und Seilzügen wirkten intakt, so als müßten da gleich, wie vor hundert Jahren, die Salzsäcke herunterschweben. Ganz oben gab es ein bißchen Verfremdung. Wenn man genau hinsah, entdeckte man Balkonbrüstungen mit Frühlingsblumen und dahinter große Panoramafenster. Da gab es Luxuswohnungen, Penthäuser, Studioräume, Ateliers. Ähnlich, wie andere Städter auf dem Lande die alten Mühlen bewohnten, hatten hier ein paar Hamburger ihre nostalgische Adresse.
Klaus Hemmerich und Christiane Hagen hatten keinen Blick für die pittoreske Szenerie draußen, auf die sich langsam das Abenddunkel senkte, und ebensowenig für das Interieur ihres Lokals, die dunklen Paneele an den Wänden, die wuchtigen Balken an der Decke und die Glaskästen mit den alten Schiffsmodellen. Auch das typisch hamburgische Gericht, die Suppe mit Aal, Grießklößen und Backpflaumen, die sie früher schon so manches Mal begeistert und wortreich kommentiert hatten, war diesmal ungelobt verzehrt worden, denn während der ganzen Mahlzeit hatten sie von nichts anderem gesprochen als von dem Verschollenen.
Der Ober hatte die Teller abgeräumt und den Kaffee serviert. Zwischen den Tassen lag der Brief. Christiane hatte ihn zweimal gelesen. »Du hast recht, Klaus. Wenn diese Nachricht ein paar Tage alt wäre, konnte man noch hoffen, daß er erst mal irgendwo untergetaucht ist und sich meldet, sobald er dazu Gelegenheit hat. Aber sie ist nicht ein paar Tage alt, sondern sieben Wochen, und da bleibt nicht mehr viel Hoffnung.«
»Nein«, antwortete er, »eigentlich überhaupt keine. Und so wird meine Reise wohl weniger den Sinn haben, nach Victor zu suchen, als den, seine Mörder aufzuspüren.«
»Solltest du das nicht lieber anderen überlassen? Du verstehst etwas von Maschinen und Schiffen, aber nicht von Verbrechen und Verbrechern. Victor war durch seinen Beruf viel dichter dran, war vertraut mit den Typen und ihren Methoden, und trotzdem ist er ihnen ins Netz gegangen. Und jetzt willst du, ein Ahnungsloser, versuchen, was er nicht schaffte! Das kann nicht gut ausgehen!«
»Da gibt’s einen gravierenden Unterschied. Ihm ging es um die Story, mir geht es um meinen Bruder.«
»Sicher, du hast ein anderes Motiv und ein viel stärkeres. Aber dadurch ist die Sache nicht weniger gefährlich. Die Szene, in die du hinein willst, ist dieselbe. Es sind dieselben Leute, und wenn die dich haben, geht es für sie in erster Linie um die Tatsache, daß du hinter ihnen her warst, und erst in zweiter Linie um dein Motiv.«
»Mag sein, Christiane, aber da ist noch etwas, und dagegen gibt es kein Argument. Wir dürfen, bei aller Skepsis, nicht hundertprozentig davon ausgehen, daß sie Victor getötet haben. Vielleicht halten sie ihn irgendwo gefangen. Ich glaube das nicht, kann es aber auch nicht ausschließen. Und solange es nur einen Funken Hoffnung gibt, daß er noch am Leben ist, wird mich nichts davon abhalten, diese Reise zu machen und nach ihm zu suchen.«
»Das ist alles richtig.« Christiane legte ihre Hand auf den Brief. »Es wäre undenkbar, nach dieser Nachricht nichts zu tun. Die Flucht, so wie er sie sich vorgestellt hat, ist ihm mit Sicherheit nicht geglückt, und wenn sie ihn nicht getötet haben, sondern irgendwo gefangen halten und seine einzige Hoffnung darin besteht, daß du den ›Malte‹ in die Hände kriegst und den Brief da herausholst, dann ist es selbstverständlich, daß man nach ihm sucht. Nur: Sollten das nicht wirklich die machen, die es am besten können? Du kannst ja hinfahren, dort die Polizei einschalten und selbst im Hintergrund bleiben. Schließlich mußt du auch erwägen, daß du vielleicht aus Mangel an Kenntnis und Erfahrung etwas verpatzt. Womöglich wird er gerade dadurch, daß du es unbedingt selbst machen willst, nicht gefunden, und am Ende kommt dabei heraus, daß wir’s mit zwei Verschollenen zu tun haben!«
»Ich weiß, daß es so kommen kann. Aber etwas anderes weiß ich auch. Es ist wiederum ein Unterschied,
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