1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Entfernung ein klares, scharf umrissenes Bild vor sich. Sie sahen die Einzelheiten so genau, als säße Alexander Pleskow ihnen dicht gegenüber, die beigefarbene, hochgeschlossene Jacke, die beiden oberen Knöpfe, den weißen Hemdkragen, den etwa fingerbreiten hellen Rand der Wolldecke, die Sonnenbrille, das weißgraue Haar, den gebräunten Teint. Auch die Details der näheren Umgebung hatten sie in aller Deutlichkeit vor sich, das in der Sonne blinkende Stahlgestänge des Rollstuhls, im Hintergrund eine schmiedeeiserne Wandleuchte, im Vordergrund ein paar Tauben, die sich auf der Balkonbrüstung hin und her bewegten.
»Wie im Bilderbuch«, sagte Rüdiger Herles, und Knut Vetter antwortete: »Und dazu jede Menge Zeit, denn wer setzt sich schon, in eine Wolldecke gewickelt, für nur drei oder vier Minuten in die Sonne? Und was für ein Ziel! Nicht beweglich! Nicht so wie sie’s in Dallas hatten oder neulich in Washington, sondern das Objekt direkt vor die Nase gehalten, der schlafende Pleskow, so still, als wäre er schon hinüber. Kopf oder Herz, was meinst du?«
»An sich bin ich immer mehr fürs Herz«, erwiderte Rüdiger Herles, »aber du hast es ja wohl schon selbst gesehen: Unser Winkel ist so, daß die Kante der Balkonbrüstung eben unterhalb des zweiten Jackenknopfes verläuft, und genau auf dieser Linie sitzt das Herz. Es könnte passieren, daß die Kugel die Steinkante erwischt, und das wäre natürlich Scheiße. Kopf ist diesmal also sicherer und bei so guten Bedingungen kein Problem. Und ich finde, wir machen’s jetzt gleich. Guck noch mal eben unten nach, ob der Weg frei ist und da nicht zufällig jemand neben unserm Auto steht!«
Knut Vetter robbte im Schutz der Barriere zurück bis zur Dachmitte. Dort befand sich der Durchlaß, der früher wohl mittels einer Luke geöffnet und geschlossen werden konnte. Schon wenige Minuten später kehrte er zurück, kroch bis zur Barriere vor und meldete seinem Komplicen:
»Der Weg ist frei. Wir können zwei Minuten nach dem Abdrücken schon wieder mitten im Pasinger Straßenverkehr sein.«
»Diese blöden Tauben«, sagte Rüdiger Herles, »laufen da immer hin und her oder fliegen mir genau durchs Fadenkreuz.«
Er ließ von seinem Ziel ab, drehte sich um, setzte sich bequem hin, mit dem Rücken gegen die Reifen gelehnt. »Warten wir noch einen Moment«, sagte er, »irgendwann fliegen sie ja wohl mal woanders hin.«
»Je länger ich drüber nachdenke«, sagte Knut Vetter, »desto besser erscheint mir diese Methode, verglichen mit der anderen, in der so viel Unvorhergesehenes steckt.«
»Auf jeden Fall! Das Ganze wäre wesentlich komplizierter geworden. Dies hier ist ja fast wie ein Jahrmarktschießen auf Figuren. Komm, bringen wir es hinter uns!«
Sie gingen erneut in Stellung, sahen durch ihre Gläser. Die Position des Rollstuhlinsassen war unverändert. Herles sagte:
»Der Mann schläft, er wird einen angenehmen Tod haben.« Und dann fügte er hinzu: »Und die Tauben haben sich Gott sei Dank auch verpißt. Also: Sorry, Alter, aber es muß nun mal sein!«
Herles hatte sein Ziel im Fadenkreuz, und zwar genau den Punkt, an dem das Nasenbein in die Stirn überging, hatte den Finger am Abzug und wollte gerade losdrücken, da kam eine der Tauben wieder angeflogen. Und nicht nur, daß sie dem Schützen erneut vor die Flinte geriet und ihn irritierte, sie tat noch etwas ganz anderes, setzte sich dem Invaliden auf das weiße Haar, ja, schnäbelte darauf herum, daß es aussah wie das Hämmern eines Spechts. Und der Mann rührte sich nicht! Es wurde noch grotesker. Die Taube drehte sich um, wendete dem schußbereiten Herles und seinem Begleiter die Kehrseite zu und entleerte sich. Beide sahen die weißliche Substanz wie Farbe an der Wange herunterlaufen. Und der Mann im Rollstuhl rührte sich immer noch nicht!
»Ich werd’ verrückt!« Herles legte seinen ganzen Unglauben in diese drei Worte. Aber dann hatte er begriffen: »Du, das ist nicht Pleskow, ist nicht unser Mann, ist überhaupt kein Mann, ist ein Pappkamerad, ’ne Attrappe, ’ne Puppe aus dem Panoptikum.« Er war wütend. Mit ruppigen Bewegungen begann er, seinen Stutzen vom Stativ zu montieren.
»Die haben uns reingelegt!« Er preßte die Worte durch die Zähne. Und plötzlich bekam er es mit der Angst: »Mensch, sag mal, wieso eigentlich? Wieso konnten die uns reinlegen? Wieso konnten sie wissen, daß wir ausgerechnet heute hierher kommen? Dann hockt vielleicht doch jemand unten, um uns in Empfang
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