1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Carlos.
Sie erreichten das Lokal, in dem sie essen wollten. Aber da sie spät gefrühstückt hatten, verspürten sie noch keinen Hunger und entschlossen sich, erst auf der Rückfahrt dort einzukehren. Sie kamen an die Straße, die rechterhand abging und zur Küste führte. Sie bogen ein, und schon nach wenigen Kilometern sahen sie abseits der Straße einen alten, verfallenen Turm. Wie die Ruine einer Ritterburg ragte das Bauwerk aus dem Pinienwald empor.
»Das könnte der Schacht sein«, sagte Klaus. Er zeigte nach rechts. »Und da vorn ist das weiße Haus, von dem Victor schreibt. Das Gasthaus. Vielleicht sollten wir da etwas trinken und uns ein bißchen umhorchen.«
»Etwas trinken schon«, sagte Christiane, »aber fragen? Ich weiß nicht so recht. Was, wenn die Leute zur Firma Hentschel gehören?«
Doch Klaus war entschlossen, und so sagte er: »Man soll es nicht übertreiben. Auch übergroße Vorsicht kann auffallen. Ich schätze, von zehn Leuten, die an dieser Ruine vorbeifahren und dann in dem Gasthaus einkehren, fragen mindestens acht nach dem Turm. Also, machen wir doch das Normale!«
Sie parkten vor dem Haus, gingen hinein. Sie wollten einen Sherry trinken, ließen sich aber von der alten Bäuerin, die den Ausschank betrieb, dazu überreden, einen heimischen, von ihr selbst bereiteten Kräuterlikör zu probieren. Sie stellte eine Flasche auf den Tisch, in der, zusammen mit dem angesetzten Destillat, ein ganzes dickes Kräuterbüschel verkorkt worden war. Klaus fühlte sich an die Gläser erinnert, die im Biologieraum seiner Schule standen und in denen, vom Spiritus vor Verwesung geschützt, Pflanzen oder gar Tierteile aufbewahrt wurden. In der Tat sah die Flasche mit dem dunklen Gebräu nicht sehr appetitlich aus, der Likör aber schmeckte ausgezeichnet, und die Bäuerin erklärte ihnen, der Trunk sei außerdem eine gute Medizin gegen alle möglichen Leiden, vor allem gegen Magenverstimmung.
Die alte Frau, die mit Klaus spanisch sprach, sich aber im Umgang mit ihrem großen, schwarzen, ab und zu durch das Lokal streifenden Ibizenko-Hund des Katalanischen bediente, hatte leuchtend blaue Augen. Es war sogar ein sehr helles Blau. Sicher war sie, dachte Klaus, schon hundertmal nach diesem so unspanischen Merkmal gefragt worden, und so scheute auch er die Frage nicht. Sie gab bereitwillig und gut unterrichtet, ja, wie es schien, auch ein bißchen stolz Auskunft über ihre vermutlich keltischen Vorfahren. Und Klaus antwortete auf den kleinen genetischen Diskurs mit der Bemerkung: »Wirklich eine Überraschung, auf spanische Augen zu treffen, die so blau sind wie die meiner Mutter!« Und da das Gespräch schon mal im Gange war, nutzte er die Gelegenheit: » Señora, wir haben dort drüben …«, er wies mit der Rechten hinter sich, »ein interessantes altes Gebäude gesehen. Es sieht aus wie ein Turm, wie die Reste einer Burg …«
» Es el Pozo « antwortete sie. »Das ist der Brunnen. Er gehört zu der Bleimine, die dort in der Nähe liegt.«
»Eine Bleimine?«
»Ja. Ich sehe, Sie sind überrascht, wie fast alle, die davon hören. Sie ist nicht mehr in Betrieb. Schon vor fünfzig Jahren wurde sie aufgegeben. Mein Vater hat dort noch unter Tage gearbeitet, auch ein Onkel von mir. Damals haben viele Männer aus den umliegenden Dörfern in der Mine ihr Geld verdient, Männer aus San Carlos und Es Caná und sogar aus Santa Eulalia. Später hat der Besitzer die Mine stillgelegt.«
»Wissen Sie, warum?«
»Ich glaube, es lohnte sich nicht mehr.«
»Und hat man sie danach nie wieder in Betrieb genommen?« fragte Klaus.
»Nein.«
»Auch der Staat nicht?«
»Nein, seitdem liegt sie brach. Und jetzt ist fast alles zugewachsen.«
»Dann kann man die Mine also nicht mehr besichtigen?«
»Manchmal laufen in dem Gebiet Touristen herum, aber nur vereinzelt, und sie finden nichts. Nur der Turm ist noch da. Ich selbst bin vor mehr als vierzig Jahren zum letzten Mal da gewesen. Damals hatten wir den Bürgerkrieg. Er dauerte, wie Sie vielleicht wissen, drei Jahre, und in der Zeit dienten die alten Stollen als Unterschlupf für die Republikaner.«
Diese Mitteilung erregte Klaus heftiger, als er es der alten Bäuerin zeigen durfte. Er hätte gern weitergefragt, sich erkundigt, wie es heute wohl dort unten aussehen möge und ob sie mal von Leuten gehört habe, die in jüngster Zeit unten gewesen waren, aber er hielt es für klüger, sich mit seiner Neugier nicht allzuweit vorzuwagen, fragte dann nur noch: »Gibt es einen Weg
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