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1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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ca. zwei Stunden zurück, also gegen zwölf. Warte mit dem Frühstück nicht auf mich!« Er schob das Papier unter der Tür hindurch ins Nebenzimmer, ging auf Zehenspitzen hinaus, verließ das Hotel.
    Er setzte sich in den Seat und fuhr auf der Serpentinenstraße hinunter in die Stadt, aß unterwegs ein paar Mandarinen, rauchte eine Zigarette. Er mußte oft anhalten, um nach dem Geschäft zu fragen, in dem Victors lederne Weste angefertigt worden war und dessen Adresse er sich notiert hatte.
    Er bog von der Avenida España rechts ab in die Calle Extremadura, fuhr ein paar Blocks weiter und gelangte in eine Stadtrandregion, die sich im Umbruch befand. Alte, kleine Häuser wechselten sich mit halbfertigen Wohnblocks ab.
    Er parkte das Auto neben einer Baustelle und suchte noch etwa zehn Minuten lang die Gegend zu Fuß ab, bis er endlich das Schild sah: SASTRERIA Y PELETERIA. Und wieder erlebte er, was ihm nun schon mehrfach widerfahren war, seit er die Insel betreten hatte, daß ihm die Frage auf der Zunge brannte, die Frage nach seinem Bruder, und er sie dann aber doch nicht stellen konnte, weil es vielleicht zu gefährlich war. Hier war es das Wort PELETERIA, das ihn stutzig machte. Auch Julia Potters Geschäft war eine Peletería, ein Pelzgeschäft. Vermutlich hatten die beiden Läden nichts miteinander zu tun, so daß ein Verdacht den Maestro, den er durch die große Ladenscheibe hindurch an seinem Schneidertisch arbeiten sah, zu Unrecht treffen würde. Wahrscheinlich hatte Victor sich dort wirklich nur eine Weste machen lassen und nicht etwa die Werkstatt auskundschaften wollen. Aber eine Gewähr gab es nicht.
    Nein, dachte Klaus Hemmerich, ich werde auch hier nicht nach ihm fragen. Ich werde den Laden überhaupt nicht betreten. Ich muß erst mal irgend etwas Konkretes finden.
    Eine Weile sah er durch die Schaufensterscheibe, Lederjacken, Ledermäntel, Koffer, Taschen, Sandalen. Keine Pelze. Nur einige der Kleidungsstücke mit Fell gefüttert.
    Er ging weiter, an drei, vier Häusern vorbei, machte kehrt, sah noch einmal im Vorübergehen in die Werkstatt hinein und stellte sich Victor bei der Anprobe vor. Das Bild schmerzte. Auf dem Weg zum Auto griff seine Phantasie weiter aus, hinweg über diese Anprobe, von der er nur deshalb wußte, weil es nun mal das Etikett in der Weste gab, und hinweg auch über alles, was Victor ihm geschrieben hatte, bis hin zu quälenden Imaginationen. Es war wohl sein Zorn, der sie erfand. Was, wenn Victor tatsächlich in dem Brunnen liegt, tief unten auf dem Grund?
    Und noch einmal, wie auf dem Turm, raubte ihm die so grauenhafte Vorstellung alle Kraft. Mitten auf dem Bürgersteig der Calle Extremadura, zwischen Hunden und spielenden Kindern, begann er plötzlich zu schwanken, schleppte sich noch ein paar Schritte weiter, lehnte sich schließlich an eine Hauswand.
    Er war kein Schwächling, hatte auf seinen Schiffen schon so manches harte Intermezzo erlebt, einmal zum Beispiel den blutigen Streit zwischen einem Matrosen aus Puertorico und einem irischen Koch, die mit Messern aufeinander losgegangen waren. Dabei hatte er den gefährlicheren Puertoricaner mit einem Fußtritt außer Gefecht gesetzt. Die Methode war brutal gewesen, aber da das Leben des Kochs bedroht gewesen war, hatte er kein anderes Mittel gewußt, als dem Aufgebrachten von der Seite her gegen die Knie zu springen. Der Koch hatte sich spontan bei ihm bedankt, der Puertorikaner erst später, und es hatte ihn amüsiert, daß der Südländer, wenn auch in seiner eigenen Sprache, genau die gleichen Worte benutzte wie der Ire: » Ingeniero, wo wäre ich jetzt, wenn Sie nicht gewesen wären!« Und ein anderes Mal, das lag nun schon acht oder neun Jahre zurück, hatte er auf einer seiner ersten Reisen einen bewußtlosen Heizer aus dem brennenden Maschinenraum geholt, war trotz der Explosionsgefahr über die vielen Stahlsprossen hinabgestiegen, hatte den am Boden Liegenden aus der Brandzone gezogen, ihn sich auf die Schultern geladen und dann die vier Stockwerke hinaufgetragen. Der Mann wäre sonst verbrannt oder erstickt. Nein, ein Schwächling war Klaus Hemmerich nicht und ein Feigling erst recht nicht, aber wenn er an diesen finsteren Brunnen dachte, versagten seine Nerven.
    Er hatte bislang zum eigenen Tod eine ziemlich frostige Beziehung gehabt. Ist eigentlich egal, wo und wie es passiert, Hauptsache, noch nicht so bald! Aber jetzt spürte er, wenn auch nicht auf sich selbst bezogen, daß es weiß Gott nicht egal war, wie

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