1988 VX (SM)
traf Lemmert. »Müssen Sie es denn partout so blutrünstig formulieren?«
Lemmert zog die Schultern hoch. »So ist nun mal das Leben.« Aber dann korrigierte er sich: »Oder vielmehr der Tod. Die Granate hätte Sie alle zerfetzt. Sie können von Glück sagen, daß Rüdiger Krages – oder vielleicht war es ja auch der andere, der geworfen hat – mit dem Geschoß nicht ganz so beherzt umgegangen ist wie der Spanier.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Golombek.
»Wenn Krages kaltblütiger gewesen wäre, hätte er zwei, drei Sekunden weitergezählt, bevor er warf. Dann wäre das Ding«, er wandte sich an Katharina, »Verzeihung, zu Ihren Füßen krepiert. Der Spanier hat va banque gespielt, denn er konnte nicht wissen, wie tapfer oder wie verzagt sein Gegner gezählt hatte.«
»Ob ich ihm eine Belohnung anbieten darf?« fragte Golombek.
»Von uns kriegt er wahrscheinlich einen Orden, und wenn Sie privat dann auch noch was machen wollen, wird niemand Sie daran hindern. Aber jetzt müssen wir zur Sache kommen!«
»Ich weiß nicht viel.«
»Vermutlich ahnen Sie gar nicht, wieviel Sie wissen. Also, zunächst einmal sind wir natürlich froh darüber, daß Sie sich überhaupt gemeldet haben. Wir werden gemeinsam in Wiesbaden unsere Kartei durchgehen. Sollten Sie auf den Fotos kein einziges Gesicht wiedererkennen, hilft vielleicht eine Rasterfahndung. Ich habe Ihrer Frau neulich erklärt, was das ist. Hier nochmal die Kurzfassung: Es geht um die Übereinstimmung von Tat- und Tätermerkmalen. Sie nennen uns ein paar Gewohnheiten Ihrer ehemaligen Komplizen, und das führt bei uns möglicherweise zu einem Aha-Erlebnis. Erzählen Sie mir jetzt, was geschehen ist, vom Anfang bis zum Ende, und beschreiben Sie die VITANOVA-Leute so exakt wie möglich! Jeden einzelnen, angefangen mit dem Chef der Gruppe, diesem Robert, und endend mit Helga Jonas, die wir in Ihrer Reithalle tot aufgefunden haben.«
Golombek gab sich viel Mühe, schilderte detailliert den Ablauf der VX-Aktion und dann das Aussehen aller Gruppenmitglieder, ihre Kleidung, ihre Autos, ihre physischen Auffälligkeiten und ihre sprachlichen Besonderheiten, auch die Arbeitsweise, die sie beim Tunnel- und Schwimmbadbau an den Tag gelegt hatten, außerdem ihren Umgangston untereinander und ihr Verhalten ihm und seinen Leuten gegenüber. Er sprach eine halbe Stunde durchgehend, während Lemmert sich Notizen machte. Am genauesten vermochte er Nadine zu schildern. Das fiel Katharina auf, aber sie kommentierte es nicht. Als er bei Helga Jonas angelangt war, sagte er:
»Zu ihr hatte ich den geringsten Kontakt, und dann, am Schluß …, ja, ich muß wohl sagen: den engsten, denn ich habe ihr meine Hände um den Hals gelegt und zugedrückt. In der Zeitung las ich dann, daß ich sie getötet habe.«
»Aber es war Notwehr«, warf Katharina ein. »Wie hättest du sonst wohl aus der Halle kommen sollen?«
»Natürlich war es Notwehr«, sagte Lemmert.
»Helga Jonas«, fuhr Golombek fort, »war Roberts Freundin, eine – wie ich glaube – in die Irre geführte junge Frau, die anfangs wahrscheinlich ein paar diffuse anarchistische Ideen in ihrem Jungmädchenkopf hatte und später dann dem Mann verfallen war, der in der Gruppe den Ton angab. Ein paar andersgeartete Gefährten zur rechten Zeit, und sie hätte vermutlich ins normale Leben zurückgefunden. Was man von Nadine bestimmt nicht sagen kann! Die ist knallhart, fanatisch, besessen, dazu hochintelligent, und ihre Schönheit ist natürlich ein zusätzlicher Bonus.«
»Ja«, antwortete Lemmert, »das haben wir bei Oberst Braden gesehen, denn ich zweifle nicht daran, daß sie es war, die mit ihm Tennis gespielt hat und ihn dann erschoß.«
Es war das erste Mal, daß Frank und Katharina Golombek in einer Maschine flogen, in der die Sitze wie die Möbel eines Zimmers oder einer Schiffskabine über den Raum verteilt waren. Das schaffte Bequemlichkeit. Es gab sogar einen großen Tisch und zwei Liegen. Nach Golombeks ausführlichem Bericht wurde ein Essen serviert, aber weder er noch seine Frau hatten Appetit; sie tranken nur ein Glas Wein.
Die Pyrenäen hatten sie längst überflogen, befanden sich nun über den südlichen Ausläufern der Cevennen und hatten zu ihrer Rechten das Rhônetal. Zu sehen war nichts, aber der Pilot teilte ihnen von Zeit zu Zeit den Standort mit.
Katharina, die müde geworden war, hatte sich hingelegt. Dem Kommissar war das nur recht, denn er glaubte einen konzentrierteren und offeneren Golombek vor sich zu haben,
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