1988 VX (SM)
solche Küken gegenüber einer Frau wie Ihnen!«
Sie dachte: Warum wagt er sich so weit vor? Seh’ ich so hungrig aus? Doch dann wollte sie nichts als ihre Chance wahrnehmen und sagte: »Besuchen Sie uns doch mal!« »Wie denn? Soll ich etwa die Akte ›Braden‹ wieder hervorsuchen und mit einem neuen Verhör anfangen, da, wo unsere Leute und das BKA vor fünf Wochen aufgehört haben?«
»Nein, das würde ihn nur wütend machen. Lieben Sie Pferde?«
»Es gibt manches, was ich mehr liebe.«
»Können Sie reiten?«
»Ja.«
»Na, wunderbar! Kommen Sie in den nächsten Tagen unangemeldet zu uns und überrumpeln Sie meinen Mann mit Ihrer unbezwingbaren Lust, von Zeit zu Zeit eins seiner Pferde auszuleihen. Auf diese Weise ist dann schon mal der Zutritt zu uns geregelt.«
»Und Sie meinen, das klappt?«
»Wer die Pferde meines Mannes lobt, hat bei ihm von vornherein gewonnen.«
Als Frank Golombek in die Bibliothek zurückkam, lag sie noch immer auf ihrer Chaiselongue.
Er trat dicht heran.
»Na, was sagst du nun? Den Braden wollte ich einladen, aber daraus wurde nichts, und nun kommt sein Nachfolger von selbst. Ein smarter Bursche, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete sie. »Wie oft wird er hier denn nun erscheinen?«
»Hab’ ihm freie Hand gelassen. Er kann kommen, wann er will.«
Und wieder dachte sie: Hurra, es hat funktioniert! Aber sie sagte: »Wieso diese Großzügigkeit? Und dann noch bei einem Mann, der fünfhundert Tonnen VX verwaltet.«
»Eben.«
Sie richtete sich abrupt auf, starrte ihren Mann an. »Sag mal …, das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Doch. Seit dreißig Jahren bin ich neugierig auf die verfluchten Dinger. Vielleicht zeigt dieser Morrison sie mir.«
Sie war entsetzt, aber sie war auch egoistisch und pragmatisch und dachte: Okay, jedem das Seine! Und sagte: »Aber lock ihn bitte nicht unter die Dusche, um ihn dann mit deiner MAUSER zu kitzeln, denn dies ist kein Tennisclub, aus dem man anschließend spurlos verschwinden kann.«
»Aber Katharina!«
2.
Die VITANOVA hatte sich nach dem Attentat aus der Umgebung von Wasloh zurückgezogen, allerdings nur, um an einem sicheren Ort ihr weiteres Vorgehen gegen das Depot zu planen. Da die Gruppe von ihren Auftraggebern mit reichlich Geld versehen worden war und zusätzlich über beträchtliche, aus einem Pariser Bankraub stammende Mittel verfügte, konnte sie sich teure Zwischenstationen leisten. So hatten die fünf Männer und drei Frauen ein luxuriöses Ferienquartier an der Ostsee bezogen, ein großes reetgedecktes Landhaus. Es stand nur wenige hundert Schritte vom Badestrand entfernt.
Sie hatten sich im rustikal eingerichteten Kaminzimmer versammelt und an den Tisch gesetzt, wollten zum Unternehmen Wasloh konkrete Beschlüsse fassen.
Neben der Libyerin Zayma saß der Gruppenchef Robert Stockmann, einunddreißig Jahre alt, geboren in München. Er war der uneheliche Sohn einer deutschen Lehrerin und eines in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Offiziers, der sich noch vor der Geburt des Kindes aus dem Staub gemacht hatte. Robert war nach Abschluß der Realschule durch eine Schlosserlehre gegangen, hatte in der Abendschule Abitur gemacht, ein sozialpädagogisches Studium absolviert und sich gleichzeitig intensiv mit Marx und Lenin befaßt.
Zur Gruppe gehörte des weiteren der achtundzwanzigjährige Franzose Pierre Varnier aus Lyon. Er hatte AgrarWissenschaft studiert, seine Diplomarbeit über die künstliche Bewässerung der nordafrikanischen Trockenzonen geschrieben und nebenher sehr erfolgreich deutsch gelernt. Als wissenschaftlicher Assistent war er dann an einem Forschungsauftrag in Libyen beteiligt gewesen, hatte dort Zayma kennengelernt und war schließlich durch sie zur VITANOVA gelangt.
Der Südamerikaner Hilario del Pozo war neunundzwanzig Jahre alt. Er stammte aus Bolivien, hatte elf Jahre lang das COLEGIO ALEMAN in La Paz besucht und dort sein exzellentes Deutsch gelernt. Seit einem halben Jahr war er Mitglied der VITANOVA. An sozialer Erfahrung brachte er ein, was ihn der Umgang mit den darbenden, kokainkauenden Indios aus dem bolivianischen Hochland gelehrt hatte, zu denen auch seine Familie gehörte. Daß er dennoch die Deutsche Schule und die Universität hatte besuchen können, verdankte er einem Stipendium der katholischen Kirche. Im Jahre 1986 kam er als Austauschstudent in die Bundesrepublik, lernte durch einen befreundeten Exil-Chilenen die Organisation kennen und tauchte ab in den Untergrund.
Zayma
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