1991 Atlantik Transfer (SM)
Kettenreaktion also ausblieb. Nach weiteren vergeblichen Versuchen, etwas Nahrhaftes aus dem Bewuchs herauszupicken, gab die Möwe auf, erhob sich flatternd und segelte zum Schiff zurück.
Die Mine setzte ihre Reise fort, und es sah nun so aus, als hätte sie eine Chance, mit dem Golfstrom den Nordatlantik diagonal zu überqueren und nach Europa zurückzukehren, und vielleicht würde ihr Deckel eines Tages tatsächlich in einem norwegischen Vorgarten Blumen beherbergen. Aber eine Garantie dafür gab es nicht, denn wohin ihr Weg sie auch führen mochte, sie war und blieb bis hinein in ihren Kern unberechenbar. Seit dem Auslaufen aus dem Hafen von Paramaribo hatte die MELLUM sechs Tagereisen mit nordnordöstlichem Kurs zurückgelegt und befand sich damit schon in winterlich kalten Breiten. Etwa auf der Höhe von Philadelphia durchpflügte sie die rauhe See, war jedoch, da sie nach Quebec wollte und also auf Neufundland zuhielt, tausend Seemeilen von der nordamerikanischen Küste entfernt.
Es war eine stürmische Nacht mit Windstärke acht. Jacob Thaden war durch die starken Schiffsbewegungen wach geworden und dann aufgestanden. Er hatte sich, weil er Sigrid und Arndt nicht wecken wollte, im Dunkeln angekleidet, wegen des schlechten Wetters auch seine Öljacke angezogen, war so leise wie möglich aus der Kabine geschlüpft und zur Brücke hinaufgegangen.
Die Schiebetür zum Ruderhaus war geschlossen, und so blieb er auf der Steuerbord-Brückennock. Der Mond war nicht zu sehen, aber ein paar Sterne blinkten. Er genoß den nächtlichen Aufenthalt an Deck, blickte zum Himmel hinauf und bildete sich ein, ein Rendezvous mit dem Großen Bären oder mit sonstwem da oben zu haben. Zu Hause in seiner Baumschule lebte er auch nahe an der Natur, doch spürte er jeden Tag aufs neue, wie eingeschnürt er war in ein Netz von Beeinträchtigungen.
Ganz in der Nähe lag der Flugplatz, und das bedeutete ohrenbetäubende Starts und Landungen von früh bis spät. Mittlerweile betrachtete er deshalb das Haus, das er von seinen Eltern übernommen und ausgebaut hatte, als eine sehr zweifelhafte Errungenschaft. Und die vielen Flugzeuge waren nicht das einzige Übel. Lärm brandete auch von der anderen Seite gegen sein grünes Reich. Im Nordosten verlief, nur wenige hundert Meter entfernt, die Autobahn, und bei entsprechendem Wind hatte er den Eindruck, die Millionen PS brausten direkt durch seine Zimmer.
Das Schiff hier draußen auf dem Meer war eine andere Welt. Es erschien ihm als ein kleiner Kosmos für sich, dem das riesige Wasser lärmende Nachbarn vom Leibe hielt. Natürlich, da war die 12.000 PS starke Maschine, und – weiß Gott – sie flüsterte nicht, aber man lebte so einvernehmlich mit ihr wie mit dem eigenen Herzschlag. Sie sorgte dafür, daß man vorankam, daß man Licht hatte und warm duschen konnte. Und vor allem: Ihr mächtiges Getöse war kein Übergriff von außen.
Er trat an die Schiebetür, sah ins Ruderhaus, das dunkel gehalten war bis auf die kleinen Lichtquellen der Armaturen und der abgeschirmten Lampen über dem Kartentisch, auf dem die Seekarte lag. In der Nähe der Backbordtür glimmte eine Zigarette auf. Vom Wachplan her wußte er, daß jetzt der Zweite Offizier Dienst hatte, zusammen mit einem Filipino als Ausguck. An der Decke war ein dreigesichtiger Ruderlagenanzeiger befestigt, so daß der Wachhabende die Werte von jedem Punkt des Brückenhauses aus überprüfen konnte. Thaden entdeckte auch die kleine Gestalt des Filipinos, konnte in dem schwachen Licht das asiatisch geschnittene Gesicht erkennen.
Dann sah er auf das Ruderrad. Es war winzig, kleiner als das Lenkrad eines Autos. Er hatte Bilder im Kopf von Schiffen im Sturm. Da hatten die Ruderräder noch einen Durchmesser von einem Meter, und in ihren Speichen hingen die keuchenden Matrosen.
Er wandte sich um, ging zur Treppe, mußte dabei Halt suchen, denn die Bewegungen der MELLUM waren stärker geworden.
Er stieg hinunter bis zum Hauptdeck, wollte auf die Back. Das war ein langer Weg und ein doppelt beschwerlicher wegen des Seegangs und der Dunkelheit, aber er hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt, seinen Lieblingsplatz aufzusuchen.
Wieder mußte er sich gut festhalten, wählte aber dafür nicht die Reling, weil er dort die volle Wucht der in unregelmäßigen Abständen übers Deck schlagenden Brecher zu spüren bekommen hätte, sondern die Ketten der Lukendeckel, was allerdings bedeutete, daß er keinen durchgehenden Halt hatte. Als er
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