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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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höher, zögerte aber jedesmal vor dem Zutritt, kontrollierte, ob das Holz womöglich morsch war, und ging erst weiter, wenn es ihm haltbar erschien, erreichte den Fenstersims. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Es gab nur eine leichte weiße Gardine. Klar, dachte er, so weit oben rechnet man nicht mit indiskreten Blicken.
Ganz langsam schob er den Kopf über die Kante hinaus, spähte ins Zimmer. Sie mußten es eilig gehabt haben, denn beide hatten schon keinen Fetzen mehr am Leib. Für einen Moment schloß er die Augen. Es irritierte ihn, seine Tante, die ihm während unzähliger Kinderspiele nah gewesen war, völlig nackt vor sich zu haben. Doch dann, ziemlich schnell, wurde sie zu irgendeiner Frau, die es mit irgendeinem Mann trieb. Eng aneinandergepreßt, standen sie neben dem Bett, und es schien, als sei sie ganz außer sich vor Verlangen, so ungestüm machte sie sich an ihm zu schaffen, der mindestens fünf Jahre jünger war als sie und weniger vehement. Ja, die Ungezügelte, die Wilde war sie. Jetzt drängte sie den großen, muskulösen Körper aufs Bett, stürzte sich auf ihn. Ganz deutlich sah er ihr Gesicht, das ein Bild der totalen Auflösung bot. Die Augen rollten, der leicht geöffnete Mund bebte, die Nase, etwas nach oben gerichtet, ging hin und her, als jagte sie einem neuen, faszinierenden Geruch nach. Sicher stöhnte sie auch oder schrie gar, aber hören konnte er nichts, und das machte aus dem, was er sah, einen wüsten pornographischen Stummfilm.
Er hatte genug, kletterte die Leiter hinunter, brachte sie wieder an ihren Platz, überstieg den Zaun und ging zum Wagen, machte sich auf den Heimweg. Mutter kann ich das nie und nimmer erzählen, dachte er, und Mira auch nicht. Die fällt mir glatt in Ohnmacht. Aber Vater werd’ ich’s vielleicht sagen, wenn er wieder hier ist.

29
    Der Abstieg war geschafft, und nun betraten sie in Petrohué das Hotel, in dem sie kürzlich übernachtet hatten. Sie wollten dort essen, bestellten, noch ehe sie einen Tisch ausgewählt hatten, Hühnerbouillon, Steaks und Reis. Vor allem aber galt es, nach den beiden Amerikanern zu forschen, von denen einer laut Hilarios Aussage einen Bauchschuß erlitten hatte. Sie begannen bei dem Wirt, fragten ihn aus nach Leuten, die während der letzten Tage auf den Monte Osorno gestiegen oder von dort heruntergekommen waren. Der Mann, der ihnen schon einmal Rede und Antwort gestanden hatte, wußte nur von einer französischen Reisegruppe zu berichten, deren Ziel die Skihütte war. Fünf Männer und drei Frauen seien es gewesen und sie seien noch immer oben, hieß es. Sie fragten dann ausdrücklich nach den Amerikanern und beschrieben sie auch. Doch die Antwort war negativ. »Längst nicht alle, die auf den Berg gehen«, ergänzte der Wirt, »kehren vorher bei mir ein, und nach dem Abstieg springt so mancher sofort in sein Auto und braust wieder ab.«
    Gleich nach der Mahlzeit fuhren sie los, um nach Puerto Varas zurückzukehren. Unterwegs fragten sie in jedem Hotel, in jedem Restaurant und an jeder Tankstelle, überall ohne Erfolg. In Puerto Varas entschlossen sie sich sogar, notfalls einen ganzen Tag für die Recherche zu opfern, weil sie sich sagten, auch wenn der eine das Weite gesucht haben mochte, so müsse der andere doch ärztlich behandelt werden und daher wahrscheinlich in der Nähe sein.
    Noch am Abend besuchten sie die Kliniken von Puerto Varas und der näheren Umgebung. Am nächsten Tag ging es weiter.
    Sie nahmen sich auch die Arztpraxen vor, aber nirgendwo war ein Mann mit einer Schußverletzung erschienen. Am Nachmittag erweiterten sie den auszuforschenden Bezirk, erkundigten sich jedoch nur noch telefonisch. Obwohl sie selbst so entfernte Orte wie Valdivia, La Unión, Chaitén und das auf der Insel Chiloé gelegene Castro einbezogen, blieb das Ergebnis negativ. Schließlich gaben sie auf.
    Beim Abendessen meinte Ernesto: »Entweder hat Hilario die Wirkung seines Treffers überschätzt, oder die Burschen haben ein Flugzeug zur Verfügung gehabt und den Verletzen ausgeflogen.«
    »Vielleicht«, antwortete Olaf, »ist er gestorben und wie Carlos auf dem Monte Osorno begraben. Im übrigen dürfen wir nicht vergessen, daß auch die Amerikaner die Polizei um jeden Preis zu meiden haben.«
    »Im Grunde«, sagte daraufhin Ernesto, »widerstrebt es mir, einen Gauner wie diesen Hilario, der immerhin die Sprengsätze, also die Mordinstrumente, geliefert hat, fröhlich auf seinem Berg herumturnen zu lassen, statt ihn den

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