Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1WTC

1WTC

Titel: 1WTC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich von Borries
Vom Netzwerk:
Städtchen. Einen wirklich geeigneten Ort findet er nicht. Er trifft sich mit lokalen Baufirmen, die als vertrauenswürdig gelten. Schließlich wäre es am einfachsten, die vorhandenen Strukturen zu nutzen. Aber mit jeder Stunde wird ihm deutlicher, dass alles, was er sich bislang überlegt hat, hier nicht funktionieren kann.
    Desillusioniert kehrt Tom nach New York zurück. Der Militärtransporter ist nicht annähernd so komfortabel wie ein Linienflieger. Härtere Sitze, kein Essen. Über Neufundland ein Sturm, der sich gewaschen hat. Er wird ordentlich durchgeschüttelt. Tom schaut aus dem Fenster auf die Wolkenlandschaft. Von hier oben wirken die Gebilde längst nicht so schön wie von der Erde aus. Wenn die Menschen das früher gewusst hätten, wäre das Paradies bestimmt nicht im Himmel verortet worden, denkt Tom. Von unten wirken die Wolken ruhig und rein, aber wenn man mitten drin ist, sind sie bedrohlich und machen Angst. Im Paradies gibt es bestimmt nur Schäfchenwolken.
    Kaum ist er am nächsten Tag wieder im Büro, klingelt auch schon das abhörsichere Telefon.
    »Sunner hier. Wie war’s in Polen? Und wie geht’s voran? Ich würde gerne mal einen Zwischenstand deines Entwurfs sehen. Ich kann mir dein Paradies nämlich noch immer nicht so richtig vorstellen.« Sunner lacht laut.
    Tom kann keine Zwischenstände vorweisen. Er hat keine Lösung für die Situation in Polen, seine bisherigen Entwürfe sind alle für den Papierkorb. Nicht, weil es keine guten Skizzen wären. Aber für Polen? Keine Chance. Nicht realistisch. Er muss einen ganz anderen Weg finden.
    »Klar können wir uns treffen. Aber ich brauche noch etwas Zeit.«
    »Zeit? Viel Zeit ist nicht mehr«, entgegnet Sunner.
    »Ich weiß. Ich brauche noch das Wochenende. Also am Montag?«
    »Gut. Ich bin um neun Uhr da.«
    »Okay, Sir.«
    Sunner legt auf. Noch drei Tage. Also mal wieder ein langes Wochenende im Büro. Tom schaut aus dem Fenster, dann geht er zu seinem Bücherregal.
    Er hat keine Lust mehr auf die Bücher über arabische Architektur. Er zieht eines über 9/11 aus dem Regal, damit würde er sich viel lieber beschäftigen. In Gedanken versunken blättert er ein wenig und bleibt bei einem Foto des alten World Trade Centers hängen. Die Fassade von Minoru Yamasaki. Die regelmäßige Wiederholung der Formen, die elegante Gleichförmigkeit. Neben den Bildern ist Baudrillards Text »Architektur: Wahrheit oder Radikalität« von 1999 abgedruckt.
    »Diese Bauten schienen mir von einem andern Stern heruntergefallen zu sein. Was ist ihre Wahrheit? Damals, in den sechziger Jahren, weist diese Architektur schon das Profil einer hyperrealen, wenn nicht schon elektronischen Gesellschaft, indem die beiden Türme wie Lochstreifen aussehen. Zwiefach, wie sie sind, könnte man sie heute als Klone bezeichnen und als Vorwegnahme des Endes des Originals. Haben sie unsere Zeit vorweggenommen? Lebt der Architekt also nicht in der Realität, sondern in der Fiktion einer Gesellschaft, in der antizipativen Illusion? Oder überträgt er einfach, was bereits vorhanden ist?
    Gibt es eine Wahrheit der Architektur, eine übersinnliche Bestimmung von Stadt und Raum?«
    Fiktion. Paradies. Himmel. Wolken. Tom versucht, dem Rhythmus der Fassade vom alten World Trade Center nachzuspüren. Beim Paradies kann es nicht um die Verwirklichung einer zwar imaginären, aber letztlich doch naturalistischen Vorstellung gehen, sondern um eine andere Form von Wahrheit. Der Entwurf muss abstrakt sein, losgelöst von allem konkret Vorstellbaren. Es darf nicht so aussehen wie eine realisierte Vorstellung. Kein Kitsch, sondern Abstraktion. Wie die Wolken im Himmel.
    Montagmorgen. Noch zwei Stunden, dann muss er Sunner erklären, warum das Paradies nicht funktioniert. Tom steht unter der Dusche und streckt seine Arme nach oben, das warme Wasser läuft seinen verspannten Rücken hinunter. Im Abfluss entsteht ein Strudel, das Wasser dreht sich immer schneller, aber der weiße Schaum bleibt fasst unbewegt stehen.
    Während das Wasser weiter an seinem Körper entlangläuft und die Duschkabine sich mit dem heißen Dampf füllt, sieht Tom das Verhörzentrum Raum für Raum vor seinem inneren Auge. Plötzlich passt alles zusammen.
    Er ärgert sich, dass er nicht früher darauf gekommen ist. Boullées Kenotaph für Newton. Revolutionsarchitektur. Und die Wolke von Diller & Scofidio, bei denen er in Princeton studiert hat. Tom hat den Raum vor sich: eine Innenkugel ohne erkennbare Grenzen. Ein

Weitere Kostenlose Bücher