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Over«.
Syana betrachtet die roten Stellen an Mikaels Handgelenken. Er ist schon mitten in »Das Spiel«, auch wenn er noch nichts davon ahnt. Fragen schießen ihr durch Kopf. Syana beugt sich über den schlafenden Mikael. »Wir können das System nur besiegen, wenn es in sich selbst kollabiert. ›Das Spiel‹ ist der erste Schritt zum Widerstand«, flüstert sie ihm ins Ohr. Auch Mikael hat seine Chance. Er muss sich nur wehren, den Kampf annehmen. »Aber das musst du noch lernen.« Zärtlich streichelt sie ihm übers Gesicht.
Am nächsten Tag will Mikael die Überwachungskamera in seinem Studio montieren. Sieht als Designobjekt gar nicht schlecht aus. Die Technik ist unter einer kleinen schwarzen Kuppel versteckt, alles ist glatt und glänzt. Die Diskokugel der Kontrollgesellschaft. In die Kamera ist ein Mikrocomputer eingebaut, den Syana von ihrem Rechner aus ansteuern kann. Alle Daten werden natürlich verschlüsselt gesendet.
Doch wohin mit der Kamera? Soll er nicht doch irgendwo einen toten Winkel lassen? Egal. Wenn sie mich überwachen will, ist die Kamera jetzt eben Teil des Projekts. Er montiert sie an die Decke, genau in der Mitte des Studios.
Die nächsten Wochen filmen Jennifer, Syana und Mikael kurze Sequenzen, einzelne Takes und längere Szenen mit verschiedenen Einstellungen. An Orten, die mit Millionen Foto- und Videokameras festgehalten wurden.
Jennifer im Rockefeller Center.
Jennifer auf der Rampe des Guggenheim.
Jennifer bei Prada und Niketown.
Jennifer vor der Freiheitsstatue.
Jedes Mal wird der gleiche Versuchsaufbau wiederholt. Jennifer in unterschiedlichen Posen vor der Kamera, »Show you are not afraid! Go shopping!«. Diese beiden Sätze. Immer wieder.
Für die heutigen Aufnahmen hat Jennifer sich im Cheerleader-Style zurechtgemacht. Enge Jeans, auf der Hüfte ein breiter weißer Gürtel mit glitzernder Schnalle, der erste Wonderbra ihres Lebens, darüber eine strahlend blaue Bluse, die sie direkt unter ihren Brüsten zusammenknotet. Auf dem Ärmel einige silberne Sterne. Dazu Pumps aus schwarzem Lackleder. Das Gesicht perfekt grundiert, die Lider glänzen in silbrigem Pink, auf den Wangen etwas Rouge, die Lippen mit reichlich Gloss betont. Starke Farbkontraste und viel Glitzer, damit die Performance auch in Schwarzweiß gut rüberkommt. American Dream, sexy und gleichzeitig steril.
Sie sind auf der Suche nach den Rissen, an denen die Kluft zwischen amerikanischem Traum und amerikanischer Realität sichtbar werden. Sie versuchen, Reaktionen zu provozieren. Mikael will, dass Jennifer Passanten in Gespräche verwickelt.
»Hat Shopping etwas mit der Finanzkrise zu tun?«, oder: »Wovor haben Sie mehr Angst: vor Terrorismus oder Arbeitslosigkeit?«
Die Resultate gleichen sich: abstruse Gespräche, verschreckte Passanten. Einmal treten auch noch wütende Sicherheitskräfte und Polizisten auf, sie kontrollieren ihre Ausweise, am Ende gibt es sogar einen Platzverweis und eine kleine Rangelei, bei der Jennifer in dramatischer Geste zu Boden stürzt.
Die Festplatte füllt sich. Nun fehlt nur noch der Schlussakkord. Mikael lädt Jennifer zum Essen ein. Halb um zu feiern, halb um zu recherchieren. Er hat einen Ort ausgesucht, der sich vielleicht als Drehort eignen würde: die Brasserie im Seagram Building.
Seagram Building. Wolkenkratzer. 38 Stockwerke, 156 Meter hoch. Hochhaus-Ikone. Dunkle Fassade, genau so gerastert wie der Grundriss. Elegante Stützen lassen den Baukörper über einer Basis aus Granit schweben. Pure Geometrie in klassischer Ordnung. Fertiggestellt 1958, das teuerste Gebäude seiner Zeit. Entworfen von Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969).
Im Inneren befinden sich zwei Restaurants. Das Four Seasons und die Brasserie, beide eingerichtet von Philip Johnson (1906-2005), einem Schüler Mies van der Rohes. Johnson hat sich als »Hure« bezeichnet, weil es Architekten nur darum gehe, für viel Geld ihre Auftraggeber glücklich zu machen.
Seine Brasserie wurde 1995 durch ein Feuer zerstört, die Neugestaltung verantworteten im Jahr 2000 die New Yorker Architekten Diller + Scofidio. Neben der Inneneinrichtung haben die beiden im Restaurant auch eine eigene künstlerische Arbeit installiert. Ein Sensor in der Drehtür steuert eine Videokamera, die von jedem Gast ein Foto schießt. Über der Bar befinden sich fünfzehn LCD-Monitore, die die Aufnahmen zeigen. I was here .
»Hast du eine Lieblingsszene?«, fragt Jennifer, während sie die Vorspeise probiert.
»Natürlich die,
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