2 ½ Punkte Hoffnung
hingen über der Türklinke, und ein Berg aus schmutziger Kleidung bewachte den Schrankboden.
Ich wühlte mich durch die übervolle Kleiderstange und suchte mir eine Handvoll leerer Kleiderbügel heraus. Als ich am Ende ankam, regte sich eine Erinnerung in mir. Ich zog den letzten Kleiderbügel heraus und starrte das Kleid an. Dann ging ich zu Moms Frisierkommode hinüber. Da war sie, auf diesem silbergerahmten Foto, und trug dasselbe blauweißkarierte Sommerkleid. Sie hielt mich in den Armen. Mein nagelneues Ich in einer Babydecke. Gerade aus dem Krankenhaus zurück, wie sie mir gesagt hatte. Sie lächelte. Es war kein aufgesetztes Schauspielerinnenlächeln.Sie sah aus, als wäre sie wirklich glücklich, weil sie mich hatte.
Ich ließ die leeren Kleiderbügel auf den Boden fallen und setzte mich langsam auf ihr ungemachtes Bett. Ich drückte noch immer ihr kariertes Kleid an mich und schlüpfte unter ihre Decke, schmiegte meinen Kopf an ihr Kissen und roch ihre Haare. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter mit mir in den Armen auf unser Haus zuging, und wie Tyler neben ihr herrannte und mich unbedingt sehen, auf den Arm nehmen wollte. Meine Kehle schnürte sich zusammen.
Würde ich Punkte bekommen, weil ich nicht geweint hatte?
Kurz vor dem Abendessen war ich fast fertig. Alles war gewaschen, gebügelt, aufgehängt oder lag zusammengefaltet in den Schubladen.
Ich drehte mich langsam auf meinem Drehstuhl und sah mich in meinem Zimmer um. Die Möbel glühten und die Spiegel funkelten. Aber jetzt, wo ich nichts mehr zu tun hatte, hörte ich die Stille. Sie bewegte sich langsam durch mein Zimmer, strich an den Wänden entlang, fuhr mir über die Arme, füllte meine Ohren und nagte an meinen Eingeweiden. War es so, im Gefängnis zu sein? Hatte Anne Frank sich an all den flüsternden Zehenspitzentagen im ›Versteck im Hinterhaus‹ so gefühlt? Es war eine einsame Stille, die alles aus sich herausschrie, was du nicht tun konntest, die Orte, die du nicht aufsuchen durftest.
Na, es gibt eins, was du am Ende tust, wenn du mit einem Haufen Stille dasitzt … du denkst. Du denkst darüber nach, was das Leben besser machen könnte, und du machst dirkleine Pläne, wie dir einen Hund oder eine Katze zuzulegen, damit du Gesellschaft hast, oder eine beste Freundin, die dir alle ihre Geheimnisse erzählt. Du schmiedest große Pläne, wie wegzulaufen, zählst in Gedanken die Kleider auf, die du brauchen wirst, Proviant, der nicht zerquetscht wird oder verdirbt, den Weg durch die Seitenstraßen zum Busbahnhof, wie du dir eine Fahrkarte nach Portland kaufst und über den Highway 99 W durch Newberg und Tigard fährst. Wie du Flüchtlingslager findest.
Aber was wäre mit Tyler? Tyler würde mir fehlen, auch wenn ich ihn nicht oft sah, jetzt, wo er zur Highschool ging. Er kam oft zu mir ins Zimmer und bewarf mich mit Gegenständen, brachte mich mit witzigen Geschichten zum Lachen, machte die Lehrer nach oder sang zu Countryliedern mit. Immer hatte Tyler mir durch die schlimmen Zeiten mit Mom hindurchgeholfen. Er war mir zur Hilfe gekommen und hatte Mom mit Scherzen aus ihrer schlechten Stimmung gerettet. Warum sie nett zu ihm war, wusste ich nicht. Vielleicht mochte sie Jungen lieber. Vielleicht war er kein Unfall gewesen.
Jemand klopfte an meine Tür. »HeyHop! Aufhören! Essen kommen!« Wo schon von meinem Bruder die Rede war …
Ich sprang auf und riss die Tür auf. »Aus dem Weg!« Ich stieß ihn durch den Flur und trat ihm auf den Fuß. Er packte meinen Arm und zerrte mich in die Küche.
»Das reicht jetzt, ihr zwei!« Mom stellte unsere Teller auf den Tisch. Eintopf, Salat mit Äpfeln und Nüssen und Maisbrot. »Leckeres Essen, Mom.« So. Das kam von Herzen und da konnte man keinen Streit anfangen.
Mom lächelte. »Danke. Ich finde es schön, wenn ich am Wochenende Zeit zum Kochen habe.« Gute Antwort.
Tyler schlürfte seinen Eintopf.
»Wo ist das Feuer?«, fragte ich.
Er trat mir gegen das Schienbein.
»He!«
»Leute«, warnte Mom.
Ich tunkte ein Stück Brot in meinen Eintopf.
»Nicht mit dem Essen spielen, Hope. Du hast grauenhafte Manieren. Du siehst aus wie ein Baby, das mit den Fingern isst.«
Ich schaute zu Tyler hinüber.
»Warum siehst du deinen Bruder an, wenn ich mit dir rede?«
Huch. Vergessen, vorsichtig zu sein. Meine Ohren liefen rot an.
Mom zeigte mit der Gabel auf Tyler und kicherte. »Der wird dich nicht retten.«
Zu spät. Er hat schon. Weißt du nicht mehr,
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