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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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möchte, auch wenn er sich mit den Wünschen anderer arrangieren muss.«
    »Und wo bleibt die Moral?«
    »Was für eine Moral?«
    »Die allgemein menschliche.«
    »Was für eine?«, fragte ich.
    Es gibt nichts Besseres, als einen Menschen mit der Forderung, seine Frage präzise zu formulieren, in eine Sackgasse zu treiben. Die Menschen denken in der Regel nicht über den Sinn der Wörter nach, die sie in den Mund nehmen. Sie glauben, Wörter gäben die Wahrheit wieder, meinen, unter dem Wort »rot« stelle sich jeder Mensch eine reife Himbeere vor, aber nicht fließendes Blut, während das Wort »Liebe« alle an die Sonette Shakespeares und nicht an erotische Playboy-Filme denken lasse. So geraten sie in eine Sackgasse, wenn das gewählte Wort nicht die gewünschte Reaktion auslöst.
    »Es gibt doch wohl Grundlagen«, meinte der Fahrer. »Dogmen. Tabus. So was... wie ... Gebote.«
    »Zum Beispiel?«, wollte ich wissen.
    »Du sollst nicht stehlen.«
    Ich lachte los. Der Fahrer lächelte ebenfalls.
    »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.« Jetzt lächelte er bereits von sich aus.
    »Klappt das?«, fragte ich.
    »Je nachdem.«
    »Selbst das nicht begehren klappt? Haben Sie Ihre Instinkte derart gut unter Kontrolle?«
    »Hexe!«, sagte der Fahrer genüsslich. »Also gut, ich beichte...«
    »Zu beichten ist nicht nötig!«, unterbrach ich ihn. »Das ist normal. Das ist die Freiheit! Ihre Freiheit. Sowohl zu stehlen ... als auch zu begehren.«
    »Du sollst nicht töten!«, parierte der Fahrer. »Was ist damit? Was sagst du jetzt? Das ist ein allgemein menschliches Gebot!«
    »Es heißt aber auch: Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen. Sehen Sie fern oder lesen Zeitung?«, fragte ich.
    »Manchmal. Und ohne jedes Vergnügen.«
    »Warum nennen Sie dann Du sollst nicht töten ein Gebot? Du sollst nicht töten ... Heute morgen haben sie berichtet, dass man im Süden drei weitere Geiseln genommen hat und Lösegeld fordert. Allen dreien ist bereits ein Finger abgeschnitten worden, um die Ernsthaftigkeit der Forderung zu unterstreichen. Eine der Geiseln ist, nebenbei bemerkt, ein dreijähriges Mädchen. Ihr hat man übrigens auch einen Finger abgeschnitten.«
    Die Finger des Fahrers, die das Steuer hielten, verkrampften sich, wurden weiß.
    »Diese Schweine ...«, zischte er. »Diese Entarteten. Ich habe es gehört, ja ... Aber das sind Dreckskerle, Unmenschen, nur die sind zu so etwas fähig! Mit meinen eigenen Händen könnte ich jeden Einzelnen von ihnen erwürgen...«
    Ich schwieg. Die Aura des Fahrer loderte purpurrot auf. Wenn er jetzt bloß keinen Unfall baute. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Zu genau hatte ich ins Ziel getroffen: Er hatte selbst eine kleine Tochter...
    »Öffentlich aufhängen sollte man die!«, zeterte er weiter. »Mit Napalm abfackeln!«
    Ich schwieg. Und erst als der Fahrer allmählich verstummte, fragte ich: »Und wo bleiben dann Ihre allgemein menschlichen Gebote? Wenn Sie jetzt ein Maschinengewehr in Händen hätten, würden Sie die Kerle ohne zu zögern abknallen.«
    »Für entartete Bestien gelten überhaupt keine Gebote!«, blaffte der Fahrer. Wo war nur seine ruhige Intelligenz geblieben? Energieströme sprudelten auf allen Seiten aus ihm heraus - und ich saugte sie auf, um rasch die heute Morgen verlorene Kraft zu erneuern.
    »Selbst Terroristen sind keine entarteten Bestien«, sagte ich. »Sie sind Menschen. Wie Sie einer sind. Und für Menschen gibt es keine Gebote. Das ist eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache.«
    Je mehr ich von der aus ihm austretenden Energie aufnahm, desto stärker beruhigte sich der Fahrer. Das würde natürlich nicht lange anhalten. Bis heute Abend würde sich sein Zorn wieder hochgeschaukelt, die Wut ihn wieder gepackt haben. Das ist wie mit einem Brunnen. Selbst wenn man das Wasser schnell aus ihm herausschöpft, füllt er sich wieder nach.
    »Trotzdem haben Sie Unrecht«, entgegnete er etwas ruhiger. »Die Logik ist auf Ihrer Seite, sicher ... Aber wenn wir uns heute mit dem Mittelalter vergleichen, dann hat die Moral doch unbedingt zugenommen.«
    »Hören Sie doch damit auf!« Ich schüttelte den Kopf. »Was heißt das: >zugenommen<... Selbst in den Kriegen gab es damals einen strengen Ehrenkodex. Krieg bedeutete damals noch wirklich Krieg, und die Könige zogen mit ihrem Heer in den Kampf, wobei sie Thron und Kopf riskierten. Aber heute? Da will ein großes Land ein kleines unterwerfen, also schickt es drei Monate

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