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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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echter Anderer gegen nichts eintauschen würde. Nicht gegen eine vergängliche Pflicht, nicht gegen billige, verschwommene Ideale, die jemand lange vor dir ersonnen hat. All das ist ein Mythos, eine Fiktion, ein »ucho od sledzia«, wie unsere polnischen Brüder sagen, ein »Ohr vom Hering«. Es gibt nur eine Freiheit, für alle und jeden, und es gibt nur eine Einschränkung: Niemand hat das Recht, die Freiheit seines Nächsten einzuschränken. Und nur die schlaufüch-sigen und heuchlerischen Lichten können hier vermeintliche Paradoxe und Widersprüche entdecken - wer frei ist, kommt hervorragend mit allen Freien aus und wird ihnen nie in die Quere kommen.
    Ein Auto musste ich als Anderer anhalten, denn einen Menschen ohne Jacke wollte niemand mitnehmen. Ich berührte das Bewusstsein eines Mannes in einem aufgemotzten Shiguli, einem »Neuner« in der Farbe schlammigen Asphalts.
    Natürlich hielt er an.
    Hinterm Steuer saß ein etwa fünfundzwanzigjähriger Kerl mit kurz geschnittenen Haaren, der absolut keinen Hals erkennen ließ. Der Kopf thronte einfach und irgendwie sehr natürlich auf dem Körper. Seine Augen waren leer. Insgesamt erinnerte der Fahrer an jene Boxergestalt aus einem Witz, die den Kopf nur zum Essen hatte. Dafür waren seine Reflexe fantastisch. Mir kam der starke Verdacht, er könne sein Auto selbst dann noch fahren, wenn er das Bewusstsein verloren hatte.
    »Ja?«, sagte er, als ich im Fond Platz nahm, neben seiner zeltartigen Lederjacke.
    »Na los. Nach Moskau. In der Twerskaja kannst du mich rauslassen.«
    Dann berührte ich ihn abermals leicht durchs Zwielicht.
    »Hm ...«, sagte der Mann und trat aufs Gas. Trotz der glatten Straße und der ihm auferlegten Erstarrung raste er mit über hundert Sachen los. Das Auto gehorchte ihm vorzüglich. Ob er irgendwelche besonderen Reifen hatte?
    Wir fuhren irgendwo im Nordwesten nach Moskau rein und bogen dann auf die Wolokolamskoe Chaussee. Daher flutschten wir sehr schnell durch die Riesenstadt und kamen fast geradenwegs zum Ziel. Zum Büro der Tagwache in der Twerskaja.
    Wie gut, dass ich so einen bemerkenswerten Fahrer gefunden hatte und die Straße dazu einlud, das Gaspedal ganz durchzudrücken. Obendrein schwammen wir auf einer grünen Welle.
    Als wir an der Metrostation Sokol vorbeifuhren, wurde mir klar, dass man mich geortet hatte.
    Mich und die Kralle.
    Doch einen schnurgerade durch das morgendliche Moskau dahinschießenden »Neuner« zu verfolgen ist ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.
    An der Twerskaja stieg ich aus und steckte dem halslosen Rennfahrer einen Hunderter in die Hand. Rubel, keine Dollar.
    »Ja?«, seufzte er und guckte sich um. Natürlich erinnerte er sich an nichts und versuchte jetzt mit seinem dürftigen Intellekt die fast unlösbare Aufgabe zu bewältigen: Wie war er von einer Straße in der Umgebung Moskaus ins Stadtzentrum geraten?
    Ich hatte nicht die Absicht, ihn dabei zu stören, und ließ ihn mit seinem unlösbaren Rätsel allein.
    Um seine Reflexe konnte man ihn freilich nur beneiden: Der »Neuner« fuhr fast gleich darauf los. Das Gesicht des Mannes, dem jetzt der Mund offen stand, war zum Seitenspiegel gedreht. So entschwand er meinem Blick. Ich überquerte die Straße und ging auf den Eingang des Büros zu.
    Der Vorraum hing voller Tabakqualm. Ein Kassettenrecorder, eine Boom-Box von Philipps, spielte leise ein Lied. Die Melodie war eingängig und kräftig, die Stimme heiser und tief, sodass ich Butussow nicht gleich erkannte.
     
Durchs offene Fenster fegt eisig der Wind, 
    Nacht, die zu langen Schatten gerinnt, 
    Geheimnisvoll komm ich im Silbergewand, 
    Wozu ich gekommen bin, ist dir bekannt. Will
    Macht dir geben, Verborgne Kraft, Den Hals
    dir küssen Voll Leidenschaft. 
     
    Ein junger Vampir, der glückselig vor sich hinblinzelte und tonlos mitsang, verlor bei meinem Anblick die Gabe der Rede. Der zweite Wachhabende, ein ebenso jugendlich wirkender Alchimist, donnerte bereits seinen Bericht durch den Telefonhörer.
    »Sie werden erwartet«, teilte er mir mit. »Im achten Stock.«
    Der Vampir, seiner Redekunst zwar verlustig, konnte mir immerhin noch den Fahrstuhl rufen.
    Doch plötzlich spürte ich, dass ich auf gar keinen Fall den Aufzug betreten und mit ihm nach oben fahren dürfte. Auf gar keinen Fall.
    »Übermitteln Sie bitte, dass ich lebe und alles in Ordnung ist. Aber ich muss dringend weg«, sagte der Jemand in mir.
    Ich trat wieder auf die Twerskaja hinaus.
    Erneut »trug« es mich. Ohne zu

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