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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Mensch es unter keinen Umständen aufbekommen hätte. Blinzelnd rückte ich näher zum Ausgang und schob die Plane etwas zur Seite, damit es heller wurde.
    Innen lag auf kirschrotem Samt in der Tat die rabenschwarze Kralle eines riesigen Tiers. An der gekrümmten Spitze war sie scharf wie ein Tscherkessendolch. Eine lange Rille zog sich über die ganze Kralle und erinnerte an eine Blutrinne. Das breite Ende sah abgebrochen oder zerschnitten aus, als sei die Kralle einem Tier höchst unzeremoniell und grob aus der Pfote herausgeschnitten worden. Was vermutlich auch zutraf.
    Was musste das für ein Tier sein, das eine solche Kralle hatte! Vielleicht einer dieser legendären Drachen? Sonst kam keins in Frage. Sollten denn die Drachen tatsächlich existiert haben? Ich grub in meinem Gedächtnis in der Hoffnung, eine Antwort zu finden, und schüttelte voller Zweifel den Kopf. Hexen und Vampire - das ist eine Sache, das sind doch bloß Andere. Aber Drachen...
    Matwej kam - im Schnee knirschend - vom Bach zurück. Ich seufzte bedauernd und verschwand kurz im Zwielicht, um das Futteral zu schließen und unter mein Hemd zu schieben.
    »Ausgeschlafen?«, fragte Matwej, während er auf mich zukam.
    »Hm.«
    »War dir nicht kalt?«
    »Nein. Das ist erstaunlich. Ich habe gedacht, der Wald, der Winter - da würde es bestimmt kalt werden. Aber es war warm...«
    »Ihr seid komische Leute, ihr aus dem Süden!«, wunderte sich Matwej. »Glaubst du, das hier ist kalt? In Sibirien, ja, da ist es kalt. Weißt du, was man sagt? Ein Sibirier ist niemand, der keine Angst vor der Kälte hat, sondern jemand, der sich warm anzieht!«
    Ich lachte. Gut beobachtet, wirklich gut! Das musste ich mir merken.
    Matwej lachte ebenfalls in seinen Bart. »Da hinten ist ein Bach. Da kannst du dich waschen.«
    »Hm.« Ich kroch aus dem Zelt und brachte die kurze Strecke zu dem überfrorenen Bach hinter mich. An der Stelle, an der der Pfad ans Ufer stieß, hatte jemand sorgfältig das Eis zerschlagen. Über Nacht hatte sich zwar eine neue dünne und fast durchsichtige Eisschicht über das Eisloch gelegt, doch Matwej hatte auch sie zerschlagen. Das Wasser war kalt, aber nicht so kalt, dass meine Wärme liebende Seele gemeutert hätte, als ich mir ein paar hohle Hände voll ins Gesicht spritzte. Nach dem Waschen fühlte ich mich frisch und munter, wollte sofort etwas unternehmen, irgendwohin rennen...
    Vielleicht lag das aber auch überhaupt nicht am Waschen. Gestern hatte ich mich vor dem Flughafen verausgabt, nahezu vollständig. Entsprechend hatte ich mich gefühlt. Dann hatte ich mir aus dem Portal Kraft abgezweigt und auch etwas von der Zauberin genommen, beides aber gleich wieder fast aufgebraucht. Die Nacht über musste mich die Kralle versorgt haben.
    Ihre Kraft war richtig, dunkel. Die Energie der Lichten hatte mir keine besondere Freude bereitet, das war eine widerspenstige und fremde Kraft. Aber die Kralle, das war, als streichle eine Mutter ihr Baby. Der Atem der Kralle schien etwas Verborgenes und schmerzlich Vertrautes zu haben.
    Ich fühlte mich imstande, Berge zu versetzen.
    »Wann wollt ihr aufbrechen?«, fragte ich, als ich wieder beim Zelt angelangt war. Genauer: nicht beim Zelt, sondern bei der Feuerstelle. Matwej hackte Holz. Beide Hunde strichen in seiner Nähe herum und schielten immer wieder gierig auf den über dem Feuer hängenden Kessel.
    »Die Leutchen müssen erst ausschlafen, dann machen wir den Pilaw warm, kippen noch ein paar Grämmchen gegen die Kälte, und dann brechen wir auf. Was ist? Hast du's eilig?«
    »Es wäre nicht schlecht, wenn ich bald loskäme«, meinte ich vage.
    »Na denn ... Wenn du es eilig hast, dann geh. Die Jacke kannst du erst mal behalten ... Ich gebe dir Stjopkas Adresse, dann bringst du sie ihm irgendwann zurück.«
    Wenn du wüsstest, wem du gerade hilfst, guter Mann...
    »Matwej«, meinte ich leise. »Ich glaube kaum, dass ich es schaffen werde, bei Stjopka vorbeizugehen. Vielen Dank, ich werde bestimmt nicht frieren.«
    »Sei nicht dumm.« Matwej richtete sich auf, die Axt in der ausgestreckten Hand. »Wenn du sie nicht zurückbringst - dann eben nicht. Deine Gesundheit geht vor.«
    Ich gab mir alle Mühe, damit mir ein weises und trauriges Lächeln gelang. »Matwej... Wie gut, dass wir allein sind. Ich bin nämlich gar kein Mensch.«
    In die Augen des Bärtigen trat sofort ein gelangweilter Ausdruck. Vermutlich glaubte er, ich sei einer dieser übergeschnappten Contactees oder irgendein

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