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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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zögern wandte ich mich nach links. Zum Roten Platz.
    Noch wusste ich nicht, was mich dorthin trieb und warum. Doch dieser in mir verschlossenen Kraft musste ich einfach gehorchen. Außerdem spürte ich, wie die Kralle des Fafnir zum Leben erwachte, atmete.
    Jeder Fußbreit Erde, jeder Quadratzentimeter Asphalt hier war mit Magie getränkt. Alter Magie, die sich in das Gestein der Gebäude, in den Straßenstaub gefressen hatte.
    Als rotes Massiv erhob sich etwas rechts das Historische Museum. Ich wusste nicht einmal, ob man es noch besuchen konnte oder ob die sich ein weiteres Mal radikal verändernde Geschichte des arg gebeutelten Russlands es in eine Art Casino verwandelt hatte. Das aufzuklären blieb mir übrigens keine Zeit. Ich ging an dem Gebäude vorbei.
    Das Steinpflaster des Roten Platzes, das sich noch an den gemächlichen Schritt der Zaren, die Stiefel der Revolutionssoldaten, die Raupen sowjetischer Panzermonster und die Marschkolonnen der Demonstrationen zum Ersten Mai erinnerte, schien die Moskauer Unerschütterlichkeit zu verkörpern. Diese Stadt hatte bestanden und würde bestehen, und nichts - weder die Streitereien normaler Menschen noch die ewigen Geplänkel zwischen den Wächtern des Tages und der Nacht - würde diese ruhige Größe ins Wanken bringen können.
    Ich trat auf den Platz und sah mich um. Etwas links brodelte das GUM. Rechts ragte die gezahnte Mauer des Kremls auf. Vor ihr erhob sich die Pyramide des Mausoleums. Es würde mich doch wohl nicht dorthin ziehen?
    Nein, nicht dorthin. Auch gut. Wie auch immer man zu dem einstigen Führer Russlands stehen mag, es ist eine Sünde, die Ruhe der Toten zu stören. Zumal derjenigen, die für immer und unwiderruflich verstorben sind. Er war kein Anderer - und gut, dass er keiner war.
    Ich ging über den Platz, ohne den Schritt zu beschleunigen. Ein paar schiefergraue Regierungsschlitten schossen aus dem Kremlgelände heraus und verschwanden in den Gassen. Schweigend begrüßte mich die Rundtribüne des Lobnoje Mesto. Der Bürger Minin und der Fürst Posharski begleiteten mich mit ihren Blicken. Die Basiliuskathedrale grüßte mit ihren bemalten Köpfen herüber.
    Kraft. Kraft. Kraft...
    Hier gab es so viel davon, dass ein Anderer, der sich verausgabt hatte, in wenigen Sekunden wieder zu Kräften kommen konnte.
    Doch niemals tat irgendwer dergleichen. Denn das ist eine fremde Kraft. Eine Niemandskraft. Eine widerspenstige und unkontrollierbare Kraft. Die Kraft vergangener Jahrhunderte. Die Kraft gestürzter Zaren und Generalsekretäre. Man braucht sie bloß zu berühren, und sie vertilgt einen.
    Ich sah mich um, einmal, zweimal.
    Und bemerkte ihn.
    Den Inquisitor.
    Einen Inquisitor kann man mit niemandem verwechseln, weder mit einem Lichten noch mit einem Dunkeln und schon gar nicht mit einem gewöhnlichen Menschen.
    Der Inquisitor sah mich hartnäckig an, weshalb nicht zu verstehen war, warum ich ihn erst jetzt bemerkt hatte.
    Er war allein, völlig allein, stand über jedem billigen Kräftespiel, außerhalb von Allianzen oder Verträgen. Er verkörperte die Gerechtigkeit und die Inquisition. Er bewahrte das Große Gleichgewicht. Musste ich noch fragen, warum er hier war?
    Ich trat dicht an ihn heran.
    »Du hast richtig gehandelt, als du gehorcht hast«, sagte der Inquisitor.
    Aus irgendeinem Grund wusste ich: Er hieß Maxim.
    Er streckte die Hand aus. »Die Kralle«, verlangte er.
    In seiner Stimme klang nicht die geringste Spur von Macht an, kein Hauch von Druck. Trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass sich dieser Stimme jeder fügen würde, bis hin zum Chef einer Wache - egal welcher.
    Langsam, mit unverhohlenem Bedauern griff ich mir unters Hemd.
    Die Kralle brodelte, zermahlte die umliegende Kraft. Kaum hielt ich sie in meiner Hand, durchströmte mich eine tosende Welle. In jede Zelle schoss die mir von der Kralle geschenkte Kraft, die ganze Welt schien bereit, auf die Knie zu fallen und sich zu ergeben. Mir. Dem Herrscher über die Kralle des Fafnir.
    »Die Kralle«, wiederholte der Inquisitor.
    Er fügte keine irgendwie geartete Bitte hinzu, ich möge keine Dummheit begehen. Die Inquisition steht über sinnlosen Ratschlägen.
    Trotzdem zögerte ich noch immer. Konnte ich wirklich freiwillig das Konzentrat einer so unerschöpflichen Kraft abgeben? Ein solches Artefakt? Den Traum eines jeden Anderen?
    Automatisch nahm ich die Umverteilung der Energie wahr - in der Nähe ging ein Lichtes Portal auf. Natürlich, Geser, der Chef der Nachtwache

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