Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
Moskaus.
    Der Inquisitor reagierte überhaupt nicht auf das Erscheinen des überraschenden Zeugen. In keiner Weise. Als sei hier nicht gerade ein Portal geöffnet worden und jemand aus dem Zwielicht herausgetreten.
    »Die Kralle«, wiederholte der Inquisitor zum dritten Mal. Zum dritten und letzten Mal. Danach würde er kein Wort mehr sagen. Das wusste ich.
    Und ich wusste auch, dass, selbst wenn jetzt alle Dunklen Moskaus auftauchen würden, sich nichts ändern würde. Sie würden mir nicht helfen. Im Gegenteil, sie würden sich auf die Seite des Inquisitors stellen. Die Auseinandersetzung um die Kralle konnte nur so lange andauern, wie die Hüter des Großen Vertrags nicht in eigener Person die Bühne betreten hatten.
    Mit zusammengekniffenen Augen schöpfte ich so viel Kraft, wie ich in mir abzuspeichern vermochte, ohne mich vor Anspannung zu verschlucken, und hielt dem Inquisitor mit zitternder Hand das Futteral mit dem Artefakt hin. Gleichzeitig registrierte ich den vagen und mit Mühe unterdrückten Wunsch Gesers, mir die Kralle zu entreißen und an sich zu bringen. Aber natürlich rührte sich der Chef der Nachtwache nicht. Erfahrung - das ist in erster Linie die Fähigkeit, kurzzeitige Im-pulse zurückzuhalten.
    Der Inquisitor sah mich an. Eigentlich hätte ich in seinem Blick Genugtuung und Billigung lesen müssen: Du bist ein guter Kerl, Dunkler, machst keine Mätzchen, gehorchst, bist ein kluges Köpfchen.
    Doch nichts dergleichen machte ich in den Augen des Inquisitors aus. Ab-so-lut nichts.
    Geser beobachtete uns mit echtem Interesse.
    Langsam steckte der Inquisitor das Futteral mit der Kralle in die Innentasche seines Jacketts und begab sich dann ohne sich zu verabschieden ins Zwielicht. Ich hörte sofort auf, ihn zu spüren. Sofort. Die Inquisition hat ihre eigenen Wege.
    »Ha!«, sagte Geser, wobei er an mir vorbeiguckte. »Du bist ein Dummkopf, Dunkler.« Dann fixierte er mich mit seinem Blick und seufzte. »Aber ein kluger Dummkopf«, fügte er hinzu. »Und das ist bemerkenswert.«
    Daraufhin ging er ebenfalls weg, diesmal unauffällig, ohne Portal. Ihn spürte ich noch einige Zeit in den tiefen Schichten des Zwielichts.
    Ich blieb auf dem Roten Platz zurück, im durchdringenden Wind, allein, ohne Kralle, an deren Kraft ich mich gewöhnt hatte, ohne warme Kleidung, nur in Pullover, Hosen und Stiefeln, während meine Haare in alle Richtungen flogen wie bei einem Kinostar in Großaufnahme. Nur die Zuschauer, die dieses gelungene Bild sehen konnte, fehlten - Geser war definitiv weg.
    »Du bist wirklich ein Dummkopf, Witali Rohosa«, flüsterte ich. »Ein kluger und gehorsamer Dummkopf. Aber vielleicht bist du gerade deshalb immer noch am Leben?«
    Doch der, der in mir steckte, rührte sich plötzlich und beruhigte mich: Alles läuft wie am Schnürchen. Du hast dich völlig richtig verhalten, als du dich von der Kralle des Fafnir getrennt hast. Mich überflutete eine so beglückende und unerschütterliche Gewissheit, richtig gehandelt zu haben, dass selbst der Wind mir nicht mehr kalt und durchdringend vorkam.
    Alles war prächtig. Alles war richtig. Kinder sollen nicht mit Atombomben spielen.
    Ich zuckte mit den Schultern, drehte mich um und ging in Richtung Twerskaja davon.
    Nachdem ich die ersten Schritte gemacht hatte, entdeckte ich die gesamte Spitze der Tagwache (es fehlten nur der Magier Kolja und natürlich der Chef) plus anderthalb Dutzend Mitarbeiter mittleren Ranges, darunter die Hexlein von Anna Ticho-nowna, die Vampirbrüder und den dicklichen Tiermenschen. Die ganze Gesellschaft gafften mich an wie Schaulustige einen aus dem Gehege flüchtenden Pinguin.
    »Hallo«, sagte ich unerwartet fröhlich. »Was macht ihr denn hier?«
    Wieder trägt es mich, dachte ich schwermütig. Oh, oh, oh...
    »Sag mal, Witali«, fragte Edgar mit seltsam gepresster Stimme, »wozu hast du das getan?«
    Eine Sekunde war er abgelenkt, denn er schickte einen übermäßig aufmerksamen Milizionär weiter, der auf die in seinen Augen verdächtige Gesellschaft zukommen wollte. Dann sah er mich wieder an. »Wozu?«
    »Brauchen die Dunklen etwa ein sinnloses Scharmützel? Brauchen sie unnütze Opfer?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. Als sei ich der sprichwörtliche Einwohner von Odessa.
    »Meiner Meinung nach lügt er«, sagte Anna Tichonowna aggressiv. »Vielleicht sollten man ihn sondieren?«
    Edgar runzelte finster die Stirn. Gerade du wirst den sondieren ...
    Bei der Tagwache hatten sie also schon ein bisschen

Weitere Kostenlose Bücher