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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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morgigen Sitzung des Tribunals auftreten wollen?«, vermutete ich.
    »Genau.«
    Der Kognak war gut. Weich und aromatisch. Wenn auch nicht die bekannteste und renommierteste Marke (aber welche war das eigentlich?), schmeckte er mir sehr.
    »Ich werde übrigens nicht länger versuchen herauszufinden, warum du dich so seltsam verhältst. Das hat man mir, ehrlich gesagt, verboten. Die da.« Edgar blickte beredt zur Decke. »Erst recht werde ich nicht weiter versuchen herauszukriegen, wer du eigentlich bist. Aus demselben Grund. Ich will nur eins fragen: Stehst du auf unserer Seite? Auf der Seite der Tagwache? Der Dunklen? Können wir morgen auf dich rechnen wie auf einen von uns?«
    »Unbedingt«, antwortete ich, ohne nachzudenken. Dann fügte ich hinzu: »Diese Antwort gilt für alle Fragen.«
    »Gut.« Edgar seufzte leicht schwermütig und leerte seinen kugelförmigen Schwenker mit einem Schluck.
    Ich hatte den Eindruck, dass er mir nicht glaubte.
    Den Kognak tranken wir in völligem Schweigen. Über das Verhalten bei der morgigen Sitzung zu sprechen hielt Edgar nicht für nötig. Er war wohl zu der Ansicht gelangt, ich würde ohnehin nach eigenem Gutdünken auftreten. Womit er völlig Recht hatte.
    Die Nacht verbrachte ich mit Alita. Mit stundenlangen Gesprächen und Kaffee - die Hexe hatte es fertig gebracht, den heute in Vergessenheit geratenen Casa Grande aufzutreiben. Nachdem wir es uns in den Sesseln bequem gemacht hatten, plauderten wir über alles und nichts. Seit langem hatte ich keinen solchen Glückstag mehr erlebt: einfach dazusitzen und sich zu unterhalten. Über Musik, von der ich, wie sich zeigte, einiges verstand. Über Literatur, in der ich mich schlechter auskannte. Über Kino, das für mich ein Buch mit sieben Siegeln war. Ab und an versuchte Alita, das Gespräch auf mich und auf meine Fähigkeiten zu lenken, doch sie stellte sich dabei so ungeschickt an, dass ich schon bald den Verdacht aufgab, die wachsame Anna Tichonowna habe sie geschickt.
    Eine Stunde vor Tagesanbruch klopfte es an der Tür.
    »Es ist offen«, rief ich.
    Edgar und Anna Tichonowna kamen herein.
    »Bist du bereit?«, fragte Edgar.
    »Immer bereit wie ein Pionier«, versicherte ich. »Rücken wir geschlossen vor? In Panzern oder als Infanterie?«
    »Sei nicht so albern.« Anna Tichonowna presste die Lippen zusammen und sah Alita streng an. Diese zwinkerte unschuldig mit den Augen.
    »Gut, ich reiß mich zusammen«, versprach ich. »Wohin fahren wir? Das weiß ich nämlich nicht.«
    Im Prinzip zweifelte ich nicht daran, dass mir mein in den Tiefen meines Bewusstseins verborgener tadelloser Treiber Ort und Richtung nennen würde. Trotzdem fragte ich.
    »Ins Hauptgebäude der Lomonossow-Universität«, erklärte Edgar. »In den Turm. Unten wartet Schagron mit dem Auto, du kannst mit ihm fahren.«
    »Gut, fahre ich mit ihm.«
    »Viel Glück«, wünschte Alita, die sich zur Tür wandte. »Ich komme morgen wieder, ja, Witali?«
    »Nein«, sagte ich finster. »Du wirst nicht kommen.«
    Ich wusste ganz genau, dass ich Recht hatte. Dennoch verstand ich immer noch nicht, warum eigentlich.
    Alita zuckte mit den Schultern und ging weg. Anna Tichonowna schlüpfte nach ihr zur Tür hinaus. Hm ... Ob der alte Drache das Mädchen doch geschickt hatte? Nur dass die mit ihrer eigenwilligen Art nichts aus mir herausgekriegt hat? Wenn dem so war, konnte man nur Mitleid mit Alita haben: Anna Tichonowna würde ihr die Seele herausreißen, auspressen und trocken legen. Dann würde der Himmel bestimmt nicht voller Geigen hängen.
    Ich holte das Mobiltelefon heraus und rief Schagron an, ohne mich auch nur zu wundern, woher ich die Nummer wusste.
    »Schagron? Ich bin's, der Gast aus dem Süden. Nimmst du mich mit? Gut, ich komme.«
    »In Ordnung, ich mache mich dann auch auf«, sagte Edgar. »Schont die Reifen nicht. Die Inquisition liebt es ganz und gar nicht, wenn jemand zu spät kommt.«
    Ich zog mich an, schloss die Tür ab und ging hinunter. Die wachhabenden Vampire am Eingang schauten mich jetzt weitaus gelassener an - entweder hatte ihr direkter Vorgesetzter ein vertrauliches Gespräch mit ihnen geführt oder sie waren selbst auf die Wahrheit gestoßen. Das heißt: Auf welche Wahrheit eigentlich? Die Wahrheit wollte sich ja nicht einmal mir preisgeben. Ab und an schimmerte plötzlich ein Teil des Mosaiks auf, hob sich der Vorhang kurz für einen Augenblick, doch dann legte sich mir erneut ein rauchender, undurchdringlicher Schleier vor die

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