2 - Wächter des Tages
vorwerfen, aber Igor würde das Ganze auch nicht überleben. Er würde sich selbst für den Tod des Jungen und... von Alissa bestrafen.«
»Was hat Alissa damit zu tun?«
»Er hat sich wirklich in sie verliebt... ein weiterer unfertiger Anderer ...« Geser beobachtete das Mienenspiel Antons und nickte: »Er hat sich verliebt, daran gibt es keinen Zweifel. Gut, du fährst also nach Prag. Als unser Vertreter beim Tribunal. Als Anwalt und Ankläger in einem. Ich gebe dir gleich alle notwendigen Unterlagen.«
»Ja ... aber ...«, stammelte Anton. »Ich habe doch überhaupt keine Erfahrung!«
»Wer hat die schon! Und du wirst sie dir aneignen. Mein Instinkt sagt mir, dass es in Zukunft viele solcher ... juristischer Prozesse geben wird. Anstelle eines ehrlichen Kampfs und einer offenen Auseinandersetzung. Und mach dir nicht allzu viele Sorgen: Wenn die Sitzung eröffnet wird, werde ich vermutlich in Prag sein. Möglicherweise zusammen mit Olga und Swetlana.«
»Weshalb mit Swetlana?«
»Vielleicht gelingt es uns zu beweisen, dass Swetlana infolge einer Intrige der Dunklen ihre Kräfte verloren hat. Dann könnten wir vielleicht die Erlaubnis zu ihrer Heilung bekommen.«
»Wie... wie das?«
»Genauso wie bei Igor. Das Unglück besteht schließlich nicht darin, dass Swetlana nicht schneller wieder gesund werden könnte. Innerhalb von nur wenigen Monaten. Das könnte sie! Das Unglück besteht darin, dass ich die Erlaubnis zur Heilung eines Magiers zweiten oder dritten Grades mit Sicherheit kriegen könnte, aber die Wiederherstellung der Kräfte einer Großen Zauberin - das ist eine außergewöhnliche Sache. Hier kann uns nur eine Erlaubnis von der Inquisition helfen. Und zwar nicht von der Moskauer Abteilung, sondern mindestens büro.« Geser erhob sein Glas und lächelte. »Prosit, Anton. Trinken wir auf unser Gelingen.«
»Boris Ignatjewitsch! Sie haben mir selbst jetzt nicht alles gesagt!«, schrie Anton fast.
»Ja, das stimmt. Aber ich habe bereits mehr gesagt, als gut wäre. Wenn du aber gern an Schlaflosigkeit leiden möchtest...« Geser dachte kurz nach. »... dann halt dir noch einmal alles vor Augen, was im letzten Jahr passiert ist. Die Schicksalskreide*, der Tod von Alissa Donnikowa, das Auftauchen des Spiegels, die an eine Karikatur erinnernden Regin-Brüder mit der Kralle des Fafnir ... und die Hysterie, die überall anlässlich des Endes des zweiten Jahrtausends grassiert.«
»Aber diese Sachen haben nichts miteinander gemein!«, platzte Anton heraus.
»Dann kannst du ja ruhig schlafen.« Geser lächelte. Ende Dezember - das ist eine verrückte Zeit, eine entschieden unernste Zeit. Eine Zeit, in der vor den Feiertagen alles drunter und drüber geht, eine Zeit der Geschenke, eine Zeit, in der man mit Kollegen Sekt trinkt, sogar am Arbeitsplatz. Eine Zeit der bunten Lichter und Weihnachtsmärkte. Vor Weihnachten und Neujahr lässt sogar die ewige Konfrontation zwischen den Anderen nach, wenn sowohl Lichte als auch Dunkle sich einer verträumten Stimmung hingeben und bisweilen sogar geneigt sind, ihrem Gegner gewisse Demütigungen zu verzeihen. Die leichtesten und oberflächlichsten.
Edgar, der Dunkle Magier und Mitarbeiter der Tagwache, kam zum ersten Mal seit seinem Umzug von Estland in die Hauptstadt Russlands zur täglichen Besprechung zu spät. Der Grund dafür war trivial, doch ihn laut auszusprechen hätte sich jeder Magier, der etwas auf sich hält, geschämt.
*Geser spielt hier auf die Operation der Moskauer Nachtwache an, die in der dritten Geschichte »Im eigenen Saft« des Buches Wächter der Nacht eingehend geschildert wird.
Edgar hatte am Tschistoprudny-Boulevard Enten gefüttert. Völlig in unerwartet über ihm zusammenschlagenden Erinnerungen abgetaucht, hatte er die Zeit schlichtweg vergessen. Wie ein Teenager nach einem Glas Wein hatte er sich seinen Träumen überlassen. Als er wieder zu sich kam, war ihm klar geworden, dass die Besprechung bereits begonnen hatte.
Wenn ihn das Alter auch manches gelehrt hatte, so ragte die Fähigkeit, sich nicht zu hetzen, wenn er ohnehin zu spät kommen würde, unter diesen erworbenen Weisheiten doch heraus. Deshalb versuchte Edgar gar nicht erst, ein Auto anzuhalten oder im Geschwindschritt zur Metro zu jagen, sondern verfütterte in aller Ruhe das gekaufte Brötchen an die Enten, die am Rand eines Eislochs entlangwatschelten und manchmal auch direkt übers Eis schlitterten. Erst danach machte er sich zur Metrostation Tschistyje Prudy auf. Der
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