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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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die Haare, doch trotzdem hatte ich den Eindruck, er sei im Moment weit, weit weg. Natürlich kann es sich ein Magier seines Formats nie leisten, sich zu entspannen. Auf seinen Schultern ruht die Last der gesamten Tagwache für Moskau und das Umland sowie das Schicksal der einfachen Dunklen, die ein friedliches und ruhiges Leben führen; er muss gegen die Intrigen der Lichten ankämpfen und sich um die Menschen kümmern... »Alissa, nachdem du mit dem Kraftprisma solchen Unfug getrieben hast, hatte ich beschlossen, dass du meine Aufmerksamkeit kaum verdienst.«
    »Sebulon... ich bin eine selbstgefällige Idiotin gewesen«, flüsterte ich und schluckte meine Tränen hinunter. »Verzeih mir. Ich habe dich getäuscht...«
    »Heute hast du dich völlig rehabilitiert.«
    Mit einer Bewegung hob Sebulon mich aus dem Sessel. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, sonst würde ich in seinen Armen baumeln, und aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich genau daran, wie mich das beim ersten Mal verblüfft hatte -diese ungeheure Kraft, die in seinem mageren Körper steckte. Selbst in Menschengestalt...
    »Ich bin zufrieden mit dir, Alissa.« Er lächelte. »Mach dir keine Gedanken darüber, dass du alles gegeben hast. Wir haben noch Reserven.«
    »Solche wie das Recht, ein Opfer darzubringen?« Ich versuchte zu lächeln.
    »Ja.« Sebulon nickte. »Du fährst in Urlaub, noch heute. Und kommst mit mehr Kraft zurück, als du je hattest.«
    Meine Lippen fingen verräterisch an zu zittern. Was soll das bloß, wie ein hysterisches Weib zu heulen, die ganze Wimperntusche verschmiert, kein Tropfen Kraft fließt noch durch mich...
    »Ich will dich«, flüsterte ich. »Sebulon, ich bin so einsam gewesen...«
    Sanft löste er sich aus meinen Armen. »Später, Alja. Wenn du zurückkommst. Ansonsten wäre es ...« Sebulon lächelte. »... die Ausnutzung meiner beruflichen Position für persönliche Zwecke.«
    »Wer würde es wagen, dir so etwas vorzuwerfen?«
    Sebulon sah mir lange in die Augen. »Da gibt es genügend, Alja. Das letzte Jahr war für die Tagwache sehr schwer, und viele wurden mich nur zu gern am Boden sehen.«
    »Dann lieber nicht«, willigte ich rasch ein. »Dann wollen wir kein Risiko eingehen. Ich komme selbst nach und nach wieder zu Kräften...«
    »Genau. Mach dir keine Sorgen, meine Kleine.«
    Es schwindelte mir, sobald ich seine Stimme hörte. Seine ruhige, sichere Kraft spürte.
    »Warum riskierst du meinetwegen so viel?«, flüsterte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch Sebulon gab sie mir. »Weil die Liebe auch eine Kraft ist. Eine große Kraft, die man nicht ignorieren sollte.«

Drei
    Schon seltsam, das Leben. Noch gestern verließ ich meine Wohnung als junge, gesunde, kraftstrotzende, aber dennoch unglückliehe Hexe.
    Vor zwölf Stunden stand ich im Büro der Tagwache noch als verkrüppelte Frau da, aller Hoffnung und jeden Glaubens an die Zukunft beraubt...
    Wie hatte sich jetzt alles geändert!
    »Willst du noch Wein, Alissa?« Mein Begleiter Pawel blickte mir devot in die Augen.
    »Ein bisschen«, antwortete ich, ohne meinen Blick vom Fenster zu lösen.
    Das Flugzeug setzte bereits zur Landung auf dem Flughafen von Simferopol an. Die alte Tupolew ächzte, legte sich langsam auf die Seite. Die Gesichter der Passagier wirkten bekümmert, angespannt.
    Nur Pawel und ich saßen völlig ruhig da - Sebulon persönlich hatte die Sicherheit des Flugs überprüft.
    Pawel reicht mir ein Kristallglas. Natürlich stammte es ebenso wenig von der Stewardess wie der südafrikanische Sauternes darin. Offenbar fasste der nicht mehr ganz junge Tiermann sei-ne Mission mit dem gebührenden Ernst auf. Eigentlich hatte er in den Süden fliegen wollen, um bei Bekannten Urlaub zu machen, doch in letzter Minute hatte man ihm den Flug nach
    Cherson gestrichen und den Auftrag erteilt, mich nach Simferopol zu bringen. Die Gerüchte, dass meine Beziehung zu Sebulon wieder im alten Gleis lief, waren ihm ganz offenbar bereits zu Ohren bekommen.
    »Auf den Chef, ja, Alissa?«, schlug Pawel vor. Er gab sich derart Mühe, sich bei mir einzuschmeicheln, dass es regelrecht unangenehm war.
    »Gut«, stimmte ich zu. Wir stießen an und tranken einen Schluck. Als die Stewardess vorbeikam, um ein letztes Mal zu kontrollieren, ob auch alle angeschnallt seien, würdigte sie uns keines Blickes. Der Zauber der Bedeutungslosigkeit, den Pawel gewirkt hatte, funktionierte einwandfrei. Selbst dieser nichtsnutzige Tiermann brachte im Moment mehr zustande als

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