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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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erforderliche Erlaubnis unterschrieben hatte. Jeder vorbildliche sowjetische Pionier sollte in seinem Leben drei Dinge tun: das Lenin-Mausoleum besuchen, einen Sommer im Artek verbringen und einem Jungpionier das Halstuch umbinden. Danach kann der nächste Schritt in seiner Entwicklung erfolgen: Er kann in den Komsomol eintreten.
    In meiner nicht sehr langen Pionierzeit war es mir nur gelungen, den ersten Punkt abzuarbeiten. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, eine der Lücken zu stopfen.
    Ich weiß nicht, wie es zu Sowjetzeiten gewesen ist, aber heutzutage machte das Ferienlager einen sehr gediegenen Eindruck. Um das Geländer herum ein intakter Zaun, am Tor Wachen. Freilich, eine Waffe trug anscheinend niemand ... zumindest auf den ersten Blick nicht..., doch die starken jungen Männer in Milizionärsuniform wirkten auch ohne sie recht imposant. Dagegen nahm sich neben diesen Posten ein vierzehn-, fünfzehnjähriger Bengel recht komisch aus. Ob er ein Relikt aus vergangenen Zeiten war, als Hörner ertönten, Trommeln geschlagen wurden und Pioniere in Reih und Glied zum Strand marschierten, um nach streng geregeltem Ablauf die Wasserbehandlungen vorzunehmen?
    Ehrlich gesagt hatte ich mit ewigen bürokratischen Prozeduren gerechnet. Oder mit größter Verwunderung. Aber offenbar war ich nicht die erste Pionierleiterin (jetzt bezeichnete man meine Aufgabe übrigens schlicht als Erzieherin), die um zwei Uhr nachts vorm Artek in einem ausländischen Wagen vorfuhr, Einer der Wachtposten schaute sich flüchtig meine Papiere an -und zwar echte, ausgestellt von den entsprechenden Institutionen, beglaubigt durch Unterschrift und Stempel - und rief dann den Posten stehenden Jungen.
    »Makar, bring Alissa zum Diensthabenden der Nachtschicht.«
    »Hm«, brummte der Bengel, der mich voller Interesse ansah. Ein guter Junge ohne Komplexe. Der eine schöne Frau sieht und sich nicht schämt, sein Interesse zu artikulieren. Er wird's zu was bringen...
    Wir verließen das Häuschen der Wachtposten, gingen an einer langen Reihe von Tafeln mit den Programmen für die einzelnen Tage, Veranstaltungsankündigungen und Wandzeitungen der Kinder vorbei - wie lange hatte ich schon keine Wandzeitungen mehr gesehen! Dann bogen wir auf einen spärlich beleuchtete Weg ein, wobei ich mich dabei ertappte, wie ich unwillkürlich links und rechts nach Gipsfiguren von Hornbläsern und Mädchen mit einem Ruder suchte. Die ich übrigens nicht fand.
    »Sind Sie die neue Gruppenleiterin?«, fragte der Junge.
    »Ja.«
    »Makar.« Würdevoll streckte er mir die Hand entgegen.
    »Alissa.« Als wir uns mit einem Handschlag begrüßten, konnte ich mir nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen.
    Der Altersunterschied zwischen uns beiden betrug nur zehn, vielleicht zwölf Jahre. Doch schon an unseren Namen ließ sich erkennen, wie sehr sich alles verändert hatte. Wo waren bloß all die Alices von Carroll und die Alissas von Bulyt-schow hin?
    Sie waren den gipsernen Hornbläsern, den Pionierfahnen, den verlorenen Illusionen und den unerfüllten Träumen gefolgt. In geschlossener Formation abgezogen, unter heiterem überschwänglichen Gesang ... Das Mädchen, das im Fernsehen einst die Alissa gespielt und allen Jungen im Land den Kopf verdreht hatte, arbeitete heute friedlich als Biologin und erinnerte sich nur noch mit einem Lächeln an die romantische Figur. 
    Neue waren gekommen. Makar, Iwan, Jegor, Mascha ... Nach dem ehernen Gesetz der Natur: Je schlechter es einem Land erpeht, je tiefer es im Dreck steckt, desto stärker ist die Sehnsucht nach den Wurzeln. Nach den alten Namen, der alten Ordnung, den alten Ritualen. Nein, sie sind nicht schlechter als wir, all diese Makars und Iwans. Wahrscheinlich sogar ganz im Gegenteil Sie sind ernsthafter, zielstrebiger, weder durch Ideologie noch sonst eine effekthaschende Größe zusammengehalten. Sie sind uns, den Dunklen, näher als all die Alissas, Serjoshas und Slawas.
    Trotzdem bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Als ob wir nicht die Richtigen waren, als ob erst sie kommen mussten.
    »Bleiben Sie nur vorübergehend bei uns?«, erkundigte sich der Junge ernsthaft.
    »Ja. Meine Freundin ist krank geworden, ich vertrete sie so lange. Aber im nächsten Jahr werde ich versuchen, wieder hierher zu kommen.«
    »Machen Sie das, bei uns ist es so schön«, meinte Makar nickend. »Ich komme im nächsten Jahr auch wieder. Dann bin ich schon fünfzehn.«
    Täuschte ich mich oder funkelte in den Augen dieses kleinen Teufels

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