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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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andre eingetragen ...« Nastja reichte mir ein dünnes Schulheft mit einem albernen Umschlag, auf dem ein bekannter Sänger zu sehen war, der dämlich von einer Bühne heruntergrinste. »Na ja ... nur Kleinigkeiten, aber vielleicht nützen sie ja etwas. Einige Mädchen muss man zu nehmen wissen...«
    Ich nickte.
    Plötzlich winkte Nastja mit der Hand ab. »Aber was erzähle ich dir denn da? Du wirst hervorragend zurechtkommen.«
    Trotzdem weihte sie mich die nächsten fünfzehn Minuten in die Feinheiten der Hausordnung ein, bat mich, auf einige Mädchen besonders zu achten, die, obwohl sie noch nicht das Alter dafür hatten, bereits mit Jungen flirteten, und riet mir, nach dem Zubettgehen nicht gleich Ruhe zu verlangen - »sie brauchen noch fünfzehn Minuten zum Quatschen, höchstens eine halbe Stunde...«
    Erst als Pjotr schweigend auf die Uhr zeigte, verstummte Nastja. Sie küsste mich auf die Wange und griff nach ihrer Tasche sowie nach irgendeiner Pappschachtel. Ob sie ihrer kranken Mutter Obst mitbringen wollte?
    »Alles Gute, Alissa...«
    Endlich war ich allein.
    Ich legte einen Stapel frischer Bettwäsche aufs Bett. Unter einem einfachen Glasschirm schimmerte matt eine Glühbirne. Pjotrs und Nastjas Schritte, ihr leises Gespräch verstummten bald.
    Ich war allein.
    Nein, nicht ganz allein. Hinter zwei dünnen Wänden, nur fünf Schritte über den Korridor schliefen achtzehn Mädchen im Alter von zehn und elf Jahren.
    Mich durchrieselte ein Zittern. Ein schwaches nervöses Zittern, als sei ich wieder eine Schülerin, die zum ersten Mal versucht, fremde Kraft abzuziehen. Wahrscheinlich hätte Nabokows Humbert Humbert an meiner Stelle genauso gebebt.
    Dabei war seine Leidenschaft für Nymphchen im Vergleich zu dem, was ich jetzt plante, in der Tat ein harmloser Jux...
    Ich löschte das Licht und ging auf Zehenspitzen in den Korridor hinaus. Wie mir doch die Fähigkeiten einer Anderen fehlten!
    Also musste ich mir mit dem behelfen, was noch von einem Menschen in mir war...
    Der Korridor war lang, der Boden knarrte. Der zerschlissene Läufer brachte mir nicht das Geringste, meine Schritte hätten leicht gehört werden können. Meine einzige Hoffnung war, dass in dieser frühen Morgenstunde die Mädchen noch fest schliefen und träumten...
    Einfache, ehrliche und ungekünstelte Kinderträume.
    Ich öffnete die Tür einen Spalt und schlüpfte in den Schlafsaal. Irgendwie hatte ich erwartet, es sehe wie in irgendeiner Anstalt aus, wie in einem Kinderheim oder einem Krankenhaus, mit Eisenbetten, trübem Licht der Nachtlampe, losen Vorhängen und »friedlich« in Reih und Glied
    schlafenden Kindern...
    Aber alles machte einen sehr angenehmen Eindruck. Licht
    fiel nur von einer Laterne draußen am Weg herein. Leichte Schatten wogten auf und ab, eine frische Meeresbrise blies durch die offenen Fenster, es roch nach Wiesenblumen. In einer Ecke schimmerte matt der Bildschirm eines ausgeschalteten Fernsehers, an den Wänden hingen Bilder, Aquarelle und Bleistiftzeichnungen, die selbst im Halbdunkel farbenfroh und unbeschwert wirkten.
    Die Mädchen schliefen.
    Manche hatten sich freigestrampelt, manche den Kopf in der Decke vergraben. Die Nachttische waren blitzblank aufgeräumt, die Sachen hingen über Bettenden und Stuhllehnen: noch feuchte Badeanzüge, Röcke, Jeans, Socken. Ein guter Psychologe, der nachts hier in den Schlafsaal schaute, hätte sich ein umfassendes Bild von den Mädchen machen können...
    Darauf konnte ich verzichten.
    Langsam ging ich zwischen den Betten hindurch. Zupfte eine heruntergerutschte Decke zurecht, legte aus dem Bett hängende Arme und Beine zurück. Die Mädchen schliefen fest. Fest und traumlos...
    Erst beim siebten Mädchen hatte ich Glück. Es war vielleicht elf, pummelig und blond. Ein ganz normales Kind, das leise im Schlaf wimmerte.
    Und schlimm träumte...
    Ich hockte mich vorm Bett auf die Knie. Streckte die Hand aus, berührte ihre Stirn. Leicht nur, lediglich mit den Fingerspitzen.
    Und spürte die Kraft.
    Jetzt, da mir die Fähigkeiten einer Anderen fehlen, hätte ich
    einen gewöhnlichen Traum nicht entziffern können. Eine and- re Sache ist es, die Möglichkeit zu spüren, Kraft aufzusaugen.
    Dabei verläuft alles auf dem Niveau tierischer Reaktionen, wie
    der Saugreflex bei einem Säugling.
    Und dann sah ich es auch...
    Ein schlimmer Traum. Das Mädchen träumte, es würde nach Hause fahren, obwohl ihre Zeit noch nicht um war. Doch sie wurde abgeholt, weil ihre Mutter erkrankt

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