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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Anderen, die er kannte, behauptet, so etwas sei schlechthin unmöglich.
    So wie er war, in der Gestalt eines nackten Menschen, rannte der Tiermensch durch das Gestrüpp zu der Stelle, an der er seine Kleidung zurückgelassen hatte. Jetzt hieß es, sich viele, viele Tage zu verstecken, statt das Risiko einzugehen, den nächtlichen Park nach einem zufälligen Opfer zu durchstreifen - in Klausur würde er sitzen müssen und die Sanktionen der Nachtwache abwarten. Und möglicherweise auch die von seinen eigenen Leuten.
    Als einzige Hoffnung blieb ihm, dass dieser einsame Reisende, der keine Angst hatte, nachts den Park zu durchqueren, dieser seltsame Andere oder bloß einen Anderen imitierende Mann, wirklich spät dran war. Seinen Zug aber noch kriegte und die Stadt verließ. Sodass ihm keine Zeit bliebe, sich an die Nachtwache zu wenden.
    Auch Andere können hoffen.

Eins
    Erst das gleichmäßige Rattern der Räder ließ mich endgültig zur Ruhe kommen. Obwohl: nein, nicht endgültig. Das soll man mal versuchen, sich nach alldem zu beruhigen! Aber wenigstens die Fähigkeit, zusammenhängend zu denken, gewann ich zurück.
    Als dieses Wesen aus dem Park sich, die Büsche zertrampelnd, auf mich gestürzt hatte, hatte ich keine Angst gehabt. Überhaupt keine. Aber auch keine Ahnung, woher ich die nötigen Worte genommen hatte. Dafür brachte ich später vermutlich etliche Fahrer von Linientaxis, die den Platz vor dem Bahnhof verstopften, mit meinem torkelnden Gang zum Staunen. Aber versuchen Sie mal, festen Schritts zu gehen, wenn einem dauernd die Knie einknicken!
    Irgendein Teufelszeug. >Nachtwache< ... Was hatte ich damit sagen wollen? Aber dieser Beißer hatte sofort losgewinselt und war zurückgekrochen, hinein in die Büsche.
    Während ich an meinem Bier nippte, versuchte ich zum x-ten Mal, den Vorfall zu begreifen.
    Also, ich war aus dem Haus gegangen...
    Stopp.
    Verwirrt stellte ich die Flasche auf dem kleinen Tisch ab. Wahrscheinlich sah ich jetzt ziemlich dumm aus, doch es konnte mich niemand sehen, das Abteil war leer.
    Stopp.
    Plötzlich ging mir auf, dass ich mich absolut nicht an mein Haus erinnerte.
    Mehr noch: Ich erinnerte mich an nichts aus meinem bisherigen Leben. Die Erinnerungen setzten erst dort ein, in diesem nasskalten winterlichen Park, ein paar Sekunden vor dem Überfall. Alles, was davor geschehen war, lag in Finsternis. Genauer, nicht in Finsternis, sondern hinter einem seltsamen grauen Schleier, einem elastischen, dehnbaren und fast undurchdringlichen Schleier. In einem Grau in Grau wölkenden Zwielicht.
    Ich verstand überhaupt nichts.
    In einer Mischung aus Verwirrung und Angst sah ich mich im Abteil um. Das völlig normal wirkte. Ein kleines Tischchen, vier Liegeplätze, braunes Plastik, bordeauxfarbenes Kunstleder. Vorm Fenster krochen vereinzelte nächtliche Lichter vorbei. Auf der gegenüberliegenden Bank lag meine Tasche ...
    Die Tasche!
    Mir wurde klar, dass ich nicht die geringste Vorstellung hatte, was sich in meiner Tasche befand. Kleidung - zumindest sollte sie drin sein. Und aus Kleidung kann man viel ableiten. Oder es fällt einem wieder etwas ein. Warum ich nach Moskau fuhr, zum Beispiel. Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, die Kleidung würde mir helfen, mein urplötzlich ausgefallenes Gedächtnis wieder in Gang zu setzen. Vermutlich hatte ich das früher irgendwo gelesen oder von jemandem gehört.
    Dann fiel mir siedendheiß etwas ein, und ich fuhr mit der Hand unter meinen Pullover, weil mir aufging: in der linken Brusttasche meines Hemds steckte mein Ausweis. Fangen wir mit dem Namen an, wenn ich den sah, stellte sich bestimmt auch alles andre wieder ein.
    Mit gemischten Gefühlen blickte ich auf die gelbliche Seite, die extravagante Wellenlinien schattierten. Auf die Fotografie. Auf das Gesicht, das ich immer - sei das nun seit dreißig Jahren, sei es seit heute - mit einem einzigen und unwiederholbaren Ich in Verbindung brachte.
    Das Gesicht kannte ich bis ins kleinste Detail hinein. Von der Narbe am Wangenknochen bis zu dem frühzeitig gelichteten Haar. Mein Gesicht, ohne Frage. Aber darum brauchte ich mich jetzt nicht weiter zu kümmern.
    Der Name.
    Witali Sergejewitsch Rohosa. Geboren am 28.09.1965.
    In der Stadt Nikolajew.
    Als ich die Seite umblätterte, las ich die gleichen Angaben in Ukrainisch, wobei zusätzlich versichert wurde, dass mein Geschlecht männlich sei und der Ausweis von einer Behörde mit der äußerst pompösen Abkürzung RO NGU UMWD der Ukraine

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