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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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sie unter den Sitz. Und freute mich ein bisschen, dass neben der bereits offenen Bierflasche noch eine weitere, eine ungeöffnete stand.
    Die Neuigkeiten sollten mit einem Beruhigungsmittel begossen werden.
    Ich wusste nicht warum, aber dieses Beruhigungsmittel wirkte bei mir eher als Schlafmittel. Ich hatte erwartet, lange beim Rattern der Räder wach zu liegen, zu blinzeln, sobald überraschend einen Moment lang Licht aufblitzte, und quälenden Gedanken nachzuhängen.
    Doch nichts dergleichen. Ich hatte noch nicht mal die zweite Flasche Bier ausgetrunken, da streckte ich mich auf der Liegebank aus - so wie ich war, angezogen, mummelte mich in die Decke und war weg.
    Vielleicht hatte ich mich mit der Erinnerung zu nah an etwas Verbotenes herangewagt?
    Keine Ahnung.
    Ich wachte auf, als die kalte Wintersonne durchs Fenster brach. Der Zug stand. Aus dem Gang klangen die gelangweilten offiziellen Stimmen zu mir herein: »Guten Tag, der russische Zoll. Führen sie Waffen, Drogen oder Devisen bei sich?« Die Antworten erfolgten weniger gelangweilt und größtenteils unverständlich.
    Dann klopfte es an meiner Tür. Ich streckte die Hand aus und öffnete.
    Der Zöllner stellte sich als feister, rotgesichtiger Mann heraus, dessen Augen langsam hinter Fettpolstern verschwanden. Als er sich mir zuwandte, verließ er aus irgendeinem Grund die eingefahrene Spur und erkundigte sich ganz schlicht, ohne jeden offiziellen Habitus: »Was haben wir denn? Reichen Sie mal die Tasche her...«
    Dann sah er sich aufmerksam im Abteil um. Er stieg auf die kleine Leiter an der Abteilwand und spähte in die Gepäcknische unter der Decke. Erst dann richtete er den Blick auf die einzelne Tasche, die mitten auf der unteren Liegebank thronte.
    Ich klappte die Bank herunter und setzte mich. Nach wie vor schweigend.
    »Öffnen Sie bitte die Tasche«, verlangte der Zöllner.
    Ob er was wittert?, fragte ich mich düster, während ich gehorsam den Reißverschluss aufzog.
    Die Tüten wanderten der Reihe nach auf die Bank. Als die Tüte mit dem Geld drankam, geriet der Zöllner sichtlich in Bewegung und stieß reflexartig die Abteiltür zu.
    »Ts, ts, ts...«
    Ich stellte mich bereits darauf ein, eine bigotte Tirade über Ausführungsbestimmungen zu hören und sogar den entsprechenden Absatz aus einem Büchlein vorlesen zu müssen - der wie jedes geschriebene Gesetz aus verständlichen Wörtern bestand, jedoch nicht den geringsten Sinn ergab. Zu hören, vorzulesen und zu der Frage verdammt zu sein: »Wie viel?«
    Doch stattdessen streckte ich in Gedanken meine Hand nach dem Kopf des Zöllners aus, berührte seinen Verstand und flüsterte: »Geh... geh weiter. Hier ist alles in Ordnung.«
    Die Augen des Zöllners trübten sich mit einem Mal und wirkten genauso stumpfsinnig wie die Zollgesetze.
    »Ja... Gute Reise...«
    Mit hölzernen Bewegungen drehte er sich um, ließ das Türschloss aufschnappen und stakste in den Gang hinaus, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er glich jetzt einer Marionette. Einer gehorsamen Holzmarionette, deren Fäden ein geschickter Puppenspieler zog.
    Aber wann war ich zu einem geschickten Puppenspieler geworden?
    Der Zug fuhr zehn Minuten später weiter, und die ganze Zeit stellte ich mir die Frage: Was passiert hier mit mir? Ich begriff nicht, was ich tat, machte aber genau das, was erforderlich war. Erst das Wesen in dem Park bei der Fabrik, jetzt dieser verblödete Zöllner...
    Und wozu, Teufel auch, fuhr ich nach Moskau? Was wollte ich dort tun, wenn ich aus dem Zug stieg? Wohin wollte ich gehen?
    Aus irgendeinem Grund gelangte ich allmählich zu der Überzeugung, dass sich alles zur rechten Zeit aufklären würde. Und zwar genau zur rechten Zeit, nicht früher.
    Nur schade, dass ich mir dessen nicht völlig sicher war.
    Einen großen Teil des Tages verschlief ich. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Reaktion meines Organismus, einen Tribut, zu leisten für die unerwartet aufgetauchten Antworten und Fähigkeiten. Wie hatte ich es fertig gebracht, den Zöllner loszuwerden? Ich hatte ihn berührt, seine trüb-himbeerfarbene Aura mit dem grün schillernden $-Zeichen wahrgenommen ... und seine Wünsche korrigieren können.
    Meiner Ansicht nach brachten Menschen dergleichen nicht fertig. Aber wer war ich, wenn nicht ein Mensch?
    Ach ja. Ein Anderer. Das hatte ich dem Tiermensch im Park gesagt. Übrigens: Dass mich im Park ein Tiermensch angegriffen hatte, begriff ich auch erst in diesem Moment. Ich erinnerte mich an seine

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