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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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immer ist...
    Trotzdem: Wenn ich wie ein Mensch denke, der tatsächlich bereits fünfunddreißig Jahre durchlebt hat, dann musste es dafür doch wohl einen Grund geben, oder?
    Gut, das konnte warten.
    Das Maul schluckte sofort fünf Hunderter und meinen Ausweis. Wer sich dort, hinter der blinden Trennwand, verbarg, konnte ich nicht sehen; ich gab mir auch gar keine Mühe, es zu erkennen. Ich bemerkte nur Finger und Nägel mit Perlmuttlack. Also eine Frau. Das sich nur unwillig öffnende Maul spuckte einen ordentlichen Packen an Hundertrubelscheinen sowie ein paar kleinere Scheine aus. Und sogar ein paar Münzen. Das Geld zählte ich nicht, sondern steckte es unter meinem Pullover in die Hemdtasche, nur die kleineren Scheinen kamen in die Hosentasche. Zusammen mit den Münzen. Der Ausweis wanderte in die andre Brusttasche. Der grüne Quittungsbeleg in den Mülleimer.
    Bestens, jetzt war ich ein Mensch. Selbst in dieser verrückten, wohl teuersten Stadt auf dem Planeten. Obwohl... obwohl nein. Vermutlich hatte Moskau diesen fragwürdigen Status bereits seit einem Jahr verloren.
    Der Winter empfing mich erneut mit seinem eisigen Atem. Der Wind trug vereinzelte kleine Krümelchen heran, die an Grieß erinnerten, an nicht ausgereifte Hagelkörner.
    Die Metro lag links. Doch da wollte ich nicht hin. Ich brauchte den andern Ausgang.
    Erneut marschierte ich am Bahnhofsgebäude vorbei und wandte mich dorthin, wo ich hinmusste: zur Ringlinie.
    Anscheinend gewann ich langsam eine Vorstellung davon, wohin ich wollte. Also, freuen wir uns über diesen Fortschritt, wenn es uns schon nicht glückt, uns über das Unbestimmte zu freuen. Und hoffen wir, dass mich allein angenehme Geschäfte nach Moskau trieben. Denn dem Bösen zu dienen - dafür spürte ich keine Kraft in mir.
    Nur echte Moskauer fahren vom Bahnhof mit einem Taxi weg. Natürlich nur, wenn es ihre Mittel erlauben. Jeder Provinzler nimmt, selbst wenn er über nicht weniger Geld verfügt als ich, die Metro. Etwas Hypnotisches steckt in diesem System von Tunneln, in diesem Labyrinth von Unterführungen. Im Getöse der rasenden Züge, im verebbenden und dann erneut aufbrausenden Strom der Luft. Hier brodelt unter den Gewölben der Stationen eine ungebrochene Energie, die nichts kostet: Du kannst dir davon nehmen, so viel du willst.
    Außerdem gibt es hier Schutz. Offenbar hängt das mit der dicken Erdschicht über unseren Köpfen zusammen ... und mit dem, was die vergangenen Jahre in dieser Erde begraben haben. Genauer: nicht die Jahre, sondern die Jahrhunderte.
    Ich trat durch die auseinander gleitenden Türen der Metro. Ekelhaft und aufdringlich dröhnte es aus den Lautsprechern, bis eine wohl intonierte Männerstimme sagte: »Vorsicht, Türen schließen. Nächste Station: Komsomolskaja.«
    Ich fuhr den Ring entlang. Entgegen dem Uhrzeigersinn. An der Komsomolskaja musste ich bestimmt nicht raus. Aber danach ... Danach würde ich wohl aussteigen. Am Prospekt Mira. Außerdem hätte ich auf dem Bahnsteig schon weiter nach vorn gehen sollen, hin zum Kopf der Metro. Dann wäre ich näher am Übergang zur andern Linie.
    Also wollte ich mit der orangegelben Linie weiter. Die ich vermutlich in nördliche Richtung nehmen würde, denn sonst wäre ich mit der Ringbahn in die andre Richtung gefahren, zur Oktjabrskaja.
    Der Waggon ruckelte beim Fahren. Weil ich sonst nichts zu tun hatte, studierte ich die unzähligen Anzeigen. Ein langhaariger Mann, der auf Zehenspitzen in der Hocke saß, pries aus irgendwelchen Gründen Strumpfhosen für Frauen an, und eine mit einem Filzstift bewaffnete Hand hatte es nicht unterlassen können, diesem nichtsnutzigen langhaarigen Typen einen Phallus von beeindruckenden Maßen anzuzeichnen. Die nächste Anzeige lud dazu ein, einem bunten Jeep durch die Stadt nachzujagen, doch der Sinn dieser Jagd entging mir. Ein Preis, vermutlich. Dann Wunder wirkende Tabletten, die gegen einen Großteil aller Beschwerden halfen, alle in einer Flasche, Maklerbüros, der allerjoghurtigste Joghurt, echtes Borshomi-Wasser mit einem Widder auf der Flasche ... Dann die Komsomolskaja.
    Da die Reklame mich nervte, knallte ich die Tasche vor den Ausgang und steuerte auf den Metroplan zu. Ich weiß nicht warum, aber mein Blick hakte sich auf Anhieb an einem roten Kreis mit der Abkürzung daneben fest, die immer noch für »Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft« steht.
    Da musste ich hin. Bestimmt. Zu einem soliden, wie ein Hufeisen gebogenem Gebäude. Zum

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