2 - Wächter des Tages
weiter.
Nun gut, dachte ich. Das hier ist die Residenz der Tagwache. Hier ist alles von Magie durchtränkt. Der Schutzschild ist nicht von schlechten Eltern. Trotzdem wirkt der Ruf ... Ja? Wirkte er?
Die Lichten mussten sich für dieses Kunststück ordentlich ins Zeug gelegt haben. Und auch dafür, es Unbefugte nicht sehen zu lassen. Ihr Glück war, dass der Chef der Tagwache nicht in Moskau weilte - ihn zu täuschen hätte den Lichten niemals zu Gebote gestanden.
Unterdessen zog ich mich in aller Ruhe an, während ich wehmütig darüber sinnierte, dass sich mein Traum, in ein Restaurant zu gehen und mir erst heiße Soljanka und danach etwas wie Ente in Kirschsauce einzupfeifen, abermals auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Dann wirkte ich zwei, drei schwächere Schutzzauber und verließ das Zimm... ach nein, die Wohnung. Wenn es hier Wohnung heißt, will ich die Tradition wahren. Das flache Kästchen des Players hatte ich natürlich schon an meinen Gürtel geschnallt. Ich stöpselte mir die kleinen Kopfhörer in die Ohren und setzte mir die Mütze auf.
Nehme ich den Zufallsgenerator, dachte ich bei mir, während ich einen der Sensoren berührte. Spiele ich ein bisschen mit dem Schicksal.
Nachdem ich alles Nötige getan hatte, ging ich zum Fahrstuhl und wartete, was das Schicksal für mich bereithielt.
Das Schicksal wählte erneut ein Lied aus der CD von Kipelow und Mawrin. Diesmal jedoch ein anders.
Nichts als Stille um mich her
Und der Himmel regenschwer;
Regen peitscht, durchdringt mich quer,
Die Schmerzen gehn vorbei.
Unterm kalten Sternenschein
Reißen wir die Brücken ein,
Alles stürzt ins bodenlose Weite.
Und ich werd von allem frei,
Gut und Böse - einerlei.
Meine Seele stand auf Messers Schneide.
Hm, ja. Eine düstere Prophezeiung. Und wann hatte ich es geschafft, die Brücken hinter mir einzureißen? Ob ich gerade zu diesem Zweck die Wohnung verlasse? Statt ein Stockwerk hinaufzugehen und mich nach dem Schicksal irgendeiner machtvollen Kralle zu erkundigen. Doch dem Ruf in die Arme getrieben hatte mich ebenjenes Etwas, das sich seit kurzem in mir versteckte.
Ich bin frei! dem Vogel gleich am Firmament. Ich bin
frei! gleich dem, der keine Angst mehr kennt. Ich bin
frei! ein wilder Sturm im Raum. Ich bin frei! im Wachen,
nicht im Traum.
Kipelows Stimme betörte mich nicht schlechter als der Ruf. Sie klang hypnotisierend, war überzeugend wie die Wahrheit selbst. Und mit einem Mal begriff ich, dass ich eine Hymne der Dunklen hörte. Das Ton gewordene Ideal ihrer ruhelosen, keine Grenzen und Regeln anerkennenden Seelen.
Nichts als Stille um mich her,
Himmel wie ein Flammenmeer,
Und das Licht durchdringt mich quer,
Nun bin ich wieder frei.
Frei von Liebe bin ich jetzt,
Frei vom Hass und vom Geschwätz,
Dass das Schicksal mir nie mehr befehle.
Frei von aller Erdenqual,
Gut und böse sind egal.
Es ist kein Platz für dich in meiner Seele.
Freiheit. Das Einzige, was uns wirklich interessiert. Freiheit von allem. Selbst von der Weltherrschaft, und es ist unsagbar traurig, dass die Lichten das niemals begreifen, niemals daran glauben können, weshalb sie immer und immer wieder ihre endlosen Intrigen spinnen, womit sie uns - wollen wir frei bleiben wie eh und je - zwingen, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Der Fahrstuhl fuhr nach unten, durchs Zwielicht und die Menschenwelt. Ich war frei...
Sollte Kipelow ein Anderer sein, wäre er ein Dunkler. Niemand sonst kann so über die Freiheit singen. Und niemand außer den Dunklen hört aus diesem Lied den wahren, den tief verborgenen Sinn heraus!
Zwei schweigsame Hexer als Wachtposten unten am Eingang ließen mich ohne weiteres durch: Edgar hatte nicht umsonst befohlen, das Bild meiner Registrierungsmarke in die Datenbasis aufzunehmen. Ich trat auf die Twerskaja hinaus, in die aufziehende Dämmerung eines gewöhnlichen Moskauer Abends. Dem Ruf entgegen, aber frei von ihm. Und von allem andern auf dieser Welt.
Wer wollte etwas von mir? Unter den Lichten gibt es keine Vampire - keine normalen, versteht sich. Denn alle Anderen sind Energie saugende Vampire, alle sind in der Lage, aus den Menschen Kraft zu schöpfen. Aus ihren Ängsten, Freuden und Sorgen. Im Grunde unterscheiden wir uns vom Zwielicht-Moos nur dadurch, dass wir denken und uns bewegen können. Und die angesammelte Kraft nicht nur als Nahrung brauchen.
Der Ruf führte mich die Twerskaja hinunter, am Kreml vorbei, Richtung Weißrussischer
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