2012 - Schatten der Verdammnis
das schaffen solltest.«
Raymond beäugt sie argwöhnisch. Dann wendet er sich seinem Schaltpult zu, stellt den Aufzug an und drückt den Knopf für den sechsten Stock. Während sie hoch fährt, beobachtet er sie auf seinem Videomonitor.
Marvis steht gerade von seinem Tisch auf, um festzustellen, wo Barnes geblieben ist, als sich die Aufzugtüren öffnen. »Dominique? Was machen Sie denn hier?«
Sie nimmt Marvis am Arm und führt ihn am Tisch vorbei, weg vom Aufzug und vom Flur, der zu Micks Station führt. »Ich will Ihnen was sagen, aber das soll dieser Barnes nicht mitbekommen.«
»Was soll er nicht mitbekommen?«
Dominique zeigt ihm den Umschlag. »Ich höre auf.«
»Wieso? Ihr Praktikum ist doch bald vorbei.«
Tränen treten ihr in die Augen. »Mein... mein Vater ist bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen.«
»Um Himmels willen. Mensch, das tut mir aber Leid.«
Aufschluchzend lässt sie sich von Marvis trösten. Sie legt ihm die Kopf an die Schulter, über die sie den Flur sehen kann, der zu Station 7-C führt.
Mick taumelt aus seiner Zelle, gekleidet in Barnes’ Uniform und Baseballmütze. Er schlägt die Tür zu und geht Richtung Aufzug.
Um Marvis daran zu hindern, sich umzudrehen, legt Dominique ihm die Hand an den Hals, als wollte sie ihn streicheln. »Tun Sie mir einen Gefallen und sorgen Sie dafür, dass Dr. Foletta diesen Brief bekommt?«
»Ja, klar. Sagen Sie mal, wie wär’s, wenn wir noch kurz was trinken gehen und ein bisschen drüber reden oder so?«
Die Aufzugtüren gehen auf. Mick taumelt hinein.
Sie tritt einen Schritt zurück. »Nein, danke, es ist schon so spät. Ich muss losfahren. Morgen früh ist die Trauerfeier. Barnes, halten Sie die Tür auf, bitte!«
Ein weißer Ärmel legt sich an die Türkante.
Dominique gibt Marvis einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute!«
»Ja, das wünsch ich Ihnen auch.«
Sie eilt zum Aufzug und schlüpft hinein, während sich die Türen schließen. Statt Mick anzuschauen, blickt sie direkt in die Kamera, die an der gegenüberliegenden Ecke der Decke angebracht ist.
Wie zufällig greift sie in ihre Handtasche. »Welcher Stock, Mr. Barnes?«
»Zweiter.«
Dominique hört die Müdigkeit in seiner Stimme. Sie hält erst zwei, dann einen Finger vor die Kamera und blickt weiterhin starr in deren Objektiv, während ihr Mick die schwere Drahtschere aus der anderen Hand nimmt und einsteckt.
Der Aufzug hält im zweiten Stock. Die Türen gehen auf.
Mick taumelt hinaus, wobei er fast auf die Nase fällt.
Die Türen schließen sich.
Mick blickt sich um und sieht, dass er allein im Flur ist. Während er vorwärts stolpert, drehen sich grün gekachelte Wände in seinem Kopf. Die starke Dosis Chlorpromazin zieht ihn zu Boden, doch das muss er jetzt aushalten. Er fällt zweimal hin, dann lehnt er sich an die
Wand und zwingt sich, den Ausgang zum Hof anzusteuern.
Die Nachtluft lässt ihn vorübergehend aufleben. Er schafft es, die Betontreppe zu erreichen, wo er sich ans stählerne Geländer klammert. Vor sich sieht er verschwommen die drei Treppenfluchten tanzen. Er blinzelt angestrengt, ohne dass der Nebel vor seinen Augen verschwindet. Los, das schaffst du. Einen Schritt vor... und jetzt den Fuß nach unten! Er stolpert die ersten drei Stufen hinab, dann fängt er sich. Reiß dich zusammen! Ein Schritt nach dem andern. Nur nicht vornüberbeugen...
Die letzten drei Meter taumelt er hinunter und fällt schmerzhaft auf den Rücken.
Einen gefährlichen Moment lang lässt er zu, dass seine Augen sich schließen. Sofort überkommt ihn ein starkes Schlafbedürfnis. Nein! Er dreht sich auf den Bauch, richtet sich mit Hilfe der Hände auf und stolpert mühsam auf die Betonmauer zu, die schwankend vor ihm aufragt.
Dominique knöpft die Strickjacke auf, atmet tief durch und tritt aus dem Aufzug. Während sie sich der Kontrollstation nähert, richtet sie den Blick auf die Reihe von Videomonitoren in Raymonds Rücken, auf denen wechselnde Aufnahmen von verschiedenen Bereichen der Anstalt erscheinen.
Sie sieht den Blick auf den Hof. Eine Gestalt in Pflegeruniform kämpft sich mühsam an der nackten Betonmauer empor.
Raymond hebt den Kopf und starrt auf ihr Dekollete.
Micks Arme fühlen sich wie Gummi an. So sehr er sich auch anstrengt, er schafft es nicht, dass seine Muskeln ihm gehorchen.
Er spürt, wie ihm der Nylonknoten durch die Finger gleitet, und fällt zweieinhalb Meter tief. Beim Aufprall auf dem harten Boden brechen ihm fast beide
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