2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Ozelot-Gardisten waren vor uns wie aus dem Nichts auf den Weg getreten, und zwei Rassler-Geblüte wehrten sie ab. Ich hatte geglaubt, ich wäre hier oben ganz für mich allein. Sollte nicht jeder das Ballspiel ansehen? Der Rassler-Hauptmann zog einem von ihnen den Streitkolben über den Schädel, doch der Kerl taumelte nur ein wenig und griff weiter an; der Hauptmann musste ihm noch mehrere Kopftreffer versetzen, ehe er zu Boden ging. Die anderen Rassler hatten den anderen Gardisten gefällt und machten sich daran, ihm die Gesichtshaut abzuziehen – hinter Skalps war man hier übrigens nicht her, das war nur etwas für dreckige Nomaden aus den Wüsten nördlich von Teotihuacán –, aber der Hauptmann befahl ihnen, es sein zu lassen, und sie richteten sich auf. Hinter ihnen näherte sich bereits ein anderer Haufen von vier oder fünf Ozelots aus der Richtung des Gelben Tores. Ich fragte mich, was sie alarmiert hatte, und blickte mich um. Wir waren nur noch zu fünft; der arme Kerl, der entmannt worden war, blutete und hinkte noch immer.
Wir können es schaffen, signalisierte Hun Xoc in Richtung auf das Gelbe Tor. Wir können durch sie hindurchbrechen.
Nein, wir können es nicht schaffen, gab ich zurück.
?!?!?, signalisierte er.
Ich zog sein Gesicht nahe zu mir heran, damit die Rassler-Geblüte nichts sahen, und blickte demonstrativ auf die Mauer. Er nickte.
Ich zog den Rassler-Hauptmann zu uns und flüsterte ihm ins Ohr: »Du nimmst die letzten drei deiner Geblüte und meine Standarte und gehst hinunter zum Gelben Tor.«
Er wollte Einwände erheben. Koh hatte ihn wahrscheinlich instruiert, dass er mich auf keinen Fall verlassen durfte. Dann jedoch besann er sich eines Besseren und rannte an der Spitze seiner kleinen Gruppe auf jene linkische Art zum Tor, wie man nachts auf unvertrautem Gelände rennt. Der Kastrierte wollte ihnen folgen, doch Hun Xoc sagte: »Du nicht«, und zog ihn zurück. Der arme Kerl machte es nicht mehr lange. Hun Xoc half ihm auf die Mauer und ließ ihn sich über die Dornen legen. Ich hörte, wie er sich die Lippen zerbiss, um seine Schmerzensschreie zu unterdrücken. Smaragd-Sturmschritts Trupp war noch hinter der Biegung des Weges, keine hundert Schritt entfernt. Hun Xoc hob mich auf den warmen öligen Rücken des Kastrierten. Er zitterte ein wenig, als er in die Dornen gedrückt wurde. Ich konnte nicht widerstehen, ich musste noch einen Blick hinunter auf das Spielfeld werfen. Wie es aussah, hatten die Harpyien Stoßtrupps durch die Seitengassen geschickt, damit sie in den Rücken der Ozelot-Formationen kamen und ihre Flanken angreifen konnten. Was war mit Koh?
Denk nicht darüber nach, dachte ich. Kümmere dich nur um deine Aufgabe. Ich sprang auf den siebenten Halswirbel des armen Hundes, packte mit beiden Händen sein Zöpfchen und setzte über seinen Kopf in die unsichtbaren Pflanzen unter mir. Hun Xoc kletterte auf ihn und rutschte neben mir herunter. Ich hob meinen Kopf aus den taufeuchten Mormonentulpen (ausgerechnet!) und blickte zur Zisterne.
Augen. Heiße, orange-grüne Augen im Gesicht eines furchterregenden Clowns, ein Jaguar, mit blauem Pulver gefärbt. Es war ein großer Jaguar, und er beobachtete uns auf träge-aufmerksame Art.
Du hast keine Angst, sagte ich mir und begann zu zählen. Bei zwölf wandte sich die Raubkatze ab und verschwand zwischen zwei knorrigen uralten Bäumen, die über und über mit Arabesken aus Turmalinen und Stachelausternschalen besetzt waren. Der Übergang wirkte gespenstisch nach der städtischen Umgebung. Hinter mir befahl Hun Xoc dem Kastrierten, von der Mauer zu steigen. Ich nehme an, er hatte den Jaguar nicht einmal gesehen. Er nahm den blutigen Kopf des Jungen mit beiden Händen und zog ihn hoch. Der Kastrierte begriff offenbar, was Hun Xoc von ihm wollte, denn er wölbte den Rücken und löste sich mit gewaltiger Anstrengung, die den letzten Rest seiner Willenskraft verbrauchte, von den Dornen. Ich hörte, wie er auf dem Weg zusammenbrach.
Es geht nicht anders, dachte ich.
Ich richtete mich auf und rannte im Jagdschritt um die Bäume, hügelaufwärts von der Raubkatze weg.
(40)
Hun Xoc folgte mir. Die Bäume auf den Terrassen standen schachbrettmusterartig zu Milpas angeordnet, wie jeder Garten in Mesoamerika – das gleiche 21 mal 20 Meter große Rechteck, das immer nach Kochab ausgerichtet ist. Jotzolob’ verliefen zwischen den Milpas, unkultivierte Gräben, die gleichzeitig als Quelle für Erdboden, als Ablage für
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