2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
uns erwartet worden. Wir traten von der Brücke und stiegen die Stufen zu einem kleinen Zócalo hinauf, der das hohe Mattenhaus umgab. Von dort gelangten wir auf die Rampe zu dem frischen, mit Schlangenköpfen geschmückten Wall um Kohs neues Gebäude. Wir hörten Kreischen. Ungefähr fünfzehn junge Mädchen – entweder Kohs unverheiratete weibliche Verwandte oder Rassler-Neophytinnen, die diese Rolle übernahmen, oder beides zugleich – versperrten den Zugang zum vorderen Hof und bewarfen uns mit Kieseln. Sie schrien, sie würden uns nichthineinlassen; sie wüssten, was wir vorhätten, und sie würden nicht zulassen, dass wir ihnen Koh wegnähmen, selbst wenn wir sie in Stücke hackten. Ich hielt die linke Hand vor mein letztes Auge. Die Steine wurden größer, und wir wichen zurück. Putzibär musste einen schmerzhaften Treffer erhalten haben, denn er jaulte auf – bei ihm eine echte Seltenheit – und schien die Mädchen seinerseits beschimpfen zu wollen. Natürlich war der ganze Krawall nur ein weiteres altehrwürdiges Ritual, aber Putzi hatte null Sinn für Humor und neigte dazu, alles zu ernst zu nehmen. Zur Linken stieß ihn von hinten an und forderte ihn auf, sich zu beruhigen. Sportler wissen eben nie, wie man sich benimmt.
»Blaugrüne Töchter hier, vier Atemzüge,
Bitte, vier, o Jadetöchter«,
sagte der Symposiarch und trat aus der hinteren Reihe vor.
Die Mädchen stellten ihr Bombardement mit den verdammten Steinen ein. Zur Linken trat auf sie zu wie Gandhi auf eine Schützenlinie britischer Soldaten.
»Ein rotes Geblüt
Bittet um Rast an eurem Herd«, sagte er.
Die Mädels beruhigten sich und ließen ihn durch. Er betrat das Gebäude. Wir warteten. Nach vierhundert Schlägen – zirka sechs Minuten und fünfzehn Sekunden – kehrte der Kantor zurück, machte zu uns das Zeichen für »Geduld« und ging wieder hinein. Wir standen weitere achthundert Schläge herum. Er sollte Kohs Eltern anflehen, dass sie uns hineinließen. Ich wackelte ein bisschen auf meinem Schlangenfuß.
Der Symposiarch kam heraus und winkte meinen Sponsoren und den Mädchen, ihm hineinzufolgen. Ich stand noch weitere zwölfhundert Schläge herum. Die Kostümierer besserten meine Gesichtsbemalung nach und staubten mich mit einer Art Talkumpuder aus blauem Ton ein. Der Schläger verrichtete sein Werk. Wie hält er dasaus?, fragte ich mich. Er war nur eine menschliche Uhr. Er musste verrückt sein. Wenn man es recht bedachte, verhielten sich professionelle Zeitschläger schon ein bisschen merkwürdig. Die Mädchen starrten uns an und heuchelten zugleich Desinteresse. Schließlich trat Zur Linken abermals ins Freie und bedeutete mir hereinzukommen. Ich befahl einem Kostümierer loszulaufen und die Geschenke zu holen; wenn die Träger auf Draht gewesen wären, hätten sie bereits an der Brücke gestanden. Ich durchschritt im Geblüt-Gang allein das Tor zu dem kleinen Vorhof. Die erste Person, die ich erkannte, war 3-Kralle, der Karakara-Vatermutter und Patriarch der Himmelssippe, den ich zuletzt in Teotihuacán auf der brennenden Mul gesehen hatte. Da er Kohs Pate war, stand er links von der einzelnen Tür, die ins Haus führte. 1-Gila, der den Part von Kohs Vater übernahm, stand rechts davon. Frau Vanilleorchidee, Kohs Mutter – ihre echte biologische Mutter übrigens, die mit Zur Linken unter einigem Risiko und nicht unwesentlichen Kosten aus Kaminaljuyu angereist war –, stand weit links, nahe bei den Mädchen, zwischen der charmant benannten Frau Kreosotbusch, sozusagen Kohs Mutter Oberin von der Seidenweberinnen-Gemeinschaft der Karakara-Sippe, und Frau Sauerteig, die ungefähr die gleiche Beziehung zu Koh innerhalb der Rasslergemeinschaft innehatte. Zwei Rassler-Affen-Schreiber kauerten auf einer getrennten Matte an der Nordwand, bereit, alles festzuhalten, was irgendjemand sagte. Im ganzen Raum hallte das Kichern der Mädchen wider, die mit den Rücken zu uns an der Südwand hockten, was als ihre respektvollste Stellung betrachtet wurde. Ich muss schon sagen, Gesellschaften mit Geschlechtertrennung haben einen gewissen erotischen Reiz. Wenn Frauen als eine völlig andere, unzugängliche Spezies erscheinen, sind sie noch attraktiver.
An jeder Ecke des Hofes stand ein Paar Rassler-Geblüte, und auf jeder Mauerecke über ihnen kauerte ein Ausguck. Einer von Kohs Buckligen entrollte eine Handelsmatte aus Schilf, die etwa eine halbe Seillänge im Geviert maß, und ich hockte mich an die östliche Schwellenseite,
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