2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Sprechrohre verbreiteten es. Die Menge schrie ihren Gruß, der irgendwo zwischen Jubel und Gesang lag. Zur Linken fragte die Menge, ob sie bereit sei, und sie bejahte lautstark. Ich lauschte auf Anzeichen für Schwierigkeiten bei den Sprechchören, hörte aber nichts. Koh hatte Tausende Rasslerfamilien von anderen Sippen adoptieren lassen, die überall in der Menge verteilt standen, und die anderen machten einfach mit. Mindestens die Hälfte der übrigen Sippen war ganz begeistert von uns und hielt mich im wahrsten Sinne des Wortes für ein Geschenk der Götter. Nur um die Aras und Schnupfer mussten wir uns Gedanken machen. Und um rückfällige Ozelots. Doch wie stark ihr Groll auch sein mochte, sie zeigten ihn nicht. Sie taten, was die Claqueure vorgaben.
Wie hoch lag unser Gefahrenpotenzial? Wie man hier so schön sagte, waren Eide, die bei vorgehaltenem Speer geschworen wurden, immer ein bisschen weniger wert. Ich wünschte, wir hätten genauer kontrollieren können, wer in den Tempelbezirk kam. Normalerweise dachten nur Angehörige eines Sippentempels auf der Halbinsel ernstlich daran, hierherzukommen. Und jede Familie hatte ihren festen Platz, deshalb wusste man ungefähr, wer kam. Jede Gruppe von Infiltratoren wäre entdeckt worden.
Kohs Gardisten und ihre Führer – Ansässige, die ihnen halfen, andere Ansässige zu erkennen – waren rund um die Uhr draußen gewesen, schon seit der Schlacht, und hatten sich bemüht, Ix in einen Polizeistaat zu verwandeln. Trotzdem konnte man nicht jeden einfach durchsuchen; man erkannte nicht einmal jeden. Für uns war es bei einer Gelegenheit wie dieser am wichtigsten, uns abseits zu halten,außerhalb der Reichweite jedes erdenklichen Geschosses zu bleiben und zu verschwinden, ehe das Volk allzu besoffen war.
Der Chefherold blies seine Spezialtrompete zum ersten Mal. Wir hörten ein Jaulen wie von einer gewaltigen Fräsmaschine, das in ein lang gezogenes Quietschen wie von einer Ellenknochenpfeife überging, und dann war nichts mehr.
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Nur noch ein paar kleine Tests, ehe das Menschenspiel beginnen konnte, das natürlich die größte Prüfung von allen wäre.
Ich wartete. Die Menge wartete. Ich war mir sicher, dass sogar die Sonne wartete, und der Schwarm halbzahmer Hellroter Aras, die um ihre Nistplätze an der Mul der Ara-Sippe gekreist waren, hing nun reglos in der Luft – aber natürlich war das einer von diesen chronopathologischen Hirngespinsten, die ich in letzter Zeit bekam. Zuvor war die Stille noch von Rascheln und von Atemgeräuschen unterbrochen worden, doch jetzt breitete sich völlige Lautlosigkeit aus; nur ein leiser Lufthauch und der ewige Trommelschlag drangen in meine Ohren. Ein statischer Moment der Metastabilität folgte, in dem die Stille wie das Rascheln uralter Geräusche aus längst vergangenen B’ak’tunob’ klang, die in den Cañons widerhallten; dann legte sich ein unterschwelliges Dröhnen darüber, das zu einem Brummen wurde. Irgendetwas schien sich sehr, sehr langsam zu nähern, etwas, das immer größer wurde, bis man seine Größe kaum fassen konnte – plutonische Barken und gewaltige, Kohlen verbrennende Züge, die durch den ewigen Nebel rasten.
Zuerst kam dieses Geräusch aus der Zitadelle auf der Mul; dann wurde es darüber und darunter aufgenommen und zurückgeworfen. Die Echos nahmen einander schneller vorweg, als der Schall sich fortpflanzte, wodurch die räumlichen Verhältnisse verschwammen, bis alles sich im Schnattern des Orakels in der Kiste verlor.
Ich musste noch eine Prüfung hinter mich bringen, ehe ich das Menschenspiel beginnen konnte. Mach dich bereit, dachte ich. Ich hatte wie besessen auf diesen Moment hingearbeitet, sodass ich alles blind beherschte, aber trotzdem …
Hör auf. Denk nicht über Fehlschläge nach. Du darfst es nicht vermasseln.
»1-Ozelot sagt, er zeigt sich vielleicht«, verkündete der Dolmetscher,
»Wenn er erfährt, was aus den Geblüten wurde, die kamen
Und ihn fütterten in diesem K’atun, die
Seine Rechte und Titel beanspruchten. Wohin sind sie alle?«
Zur Linken antwortete:
»Diese Geblüte haben ihn verlassen«, sagte er, »sie logen,
Als sie sagten, 9-Reißzahn-Kolibri würde jetzt hier sein;
Sie rannten davon und duckten sich unter Dornbäume, unter Büsche.
Sag Ozelot: ›Blick auf uns herab und sieh,
Was geschehen ist‹, und wir werden es ihm zeigen, und wir warten.
Auf seine Antwort, auf sein Urteil, harren wir gespannt.«
Auf einem Gestell mit Tonglocken
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