2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
zuckten unter mir vorüber wie Eisenbahnschwellen. Sturmwinde aus Rasierklingen sandstrahlten mein Skelett. Fünf Gewebeschichten teilten sich eine nach der anderen – weiße Stachelschweinborsten, gelbes Leder, dunkelpurpurne Baumwolle, schwarze Schlangenhaut und goldgrüne Feder –, dann war ich hindurch. Ich dachte, ich sähe jemanden vor mir, erkannte dann aber, dass es keine Naturkatastrophe sein würde und auch kein menschengemachtes Desaster irgendwelcher Art, sondern etwas völlig Neues … aber dann war es fort, und der Boden unter mir, oder das, was ich als Boden visualisierte, musste verrottet sein, denn ich lag von Erde bedeckt da. Ich selbst war Erde. Ich musste über Jahre hinweg kompostiert worden sein, doch bei jahrelangen Qualen verliert man schnell den Überblick. Ich spürte, dass Treiberameisen in meinem Leichenwachs Pilzfarmen unterhielten. Ich sickerte durch die Ebenen Neun, Zehn, Elf und Zwölf, und der Baum der Spiegel verzweigte sich zu einer weißen Straße, dem Rücken des doppelköpfigen sternenfedrigen Diamant-Rasslers, der Milchstraße, und ich glitt einen Bogen hinunter und einen anderen hinauf und folgte Sonnenträger zum Herzen des Himmels. Die Sonne kroch aus dem gezackten Höhleneingang, erschöpft und blutleer und durstig nach ihrer Flucht vor den dunklen Herren, und taumelte blind an den Rand des blau-grünen Beckens, blinzelnd, auf der Suche nach Beute. Ich wich zurück und eilte dentrockenen, glatten Leib der Schlange hinunter, doch dann hing ich fest, und als ich zog, war die Schlange mein eigener Fuß oder genauer, der Stumpf unter meinem Knie, der sich mit Schuppen bedeckt und gestreckt und die Gestalt einer Klapperschlange angenommen hatte. Der Hals der Schlange hob sich vor mir, gekrümmt wie eine im Schlag erstarrte Peitsche, und der vibrierende Kopf richtete sich auf mich, witterte mit den Grübchen in seinen Wangen meine Körperwärme, leckte meinen Schweißdunst aus der Luft. In den stumpfen lidlosen Augen sah ich mein Spiegelbild. Konnte ich mich wirklich selbst verschlingen? Die Schlange baute Spannkraft auf, um zuzustoßen. Ihr Schnarrtrommeldonner steigerte sich, und mit der Geschwindigkeit eines Risses, der durch eine Glasscheibe zuckt, stieß sie nach meinen Lippen, wobei sie Hämotoxin aus den Rillen ihrer Fangzähne versprühte.
Doch statt zuzustoßen, hielt sie sich aufrecht, reglos, mit klaffendem Maul. In ihrem lachsblassen Rachen sah ich einen feuchten schwarzen Ball. Sie hat gerade erst etwas verschluckt, dachte ich, sie hat ihr letztes Geschenk noch gar nicht verdaut.
Der hervorgewürgte Ball war mit Haar bedeckt. Ich sah den Scheitel eines Kopfes vor mir und erkannte die Locken. Als der Kopf sich drehte, erschien eine zweifarbige Stirn. Ich starrte in Kohs Augen, während sie auf den breiten schuppigen Weg gespien wurde, nackt und von irgendeinem kosmischen Universallösungsmittel schimmernd, besetzt mit Rautenmustern aus Jadesternen. Wow, dachte ich. Nicht schlecht. Koh senkte sich an ihrer Toten-Nabelschnur zu mir herab. Sie war schöner denn je, aber ich kann mich nicht richtig erinnern, wie sie aussah. Auf jeden Fall nicht mehr so wie früher.
»Ich wollte noch ein bisschen mit dir allein sein«, sagte ich und schnalzte mit der Zunge, was bei den Maya einem Achselzucken entsprach. Es kam nicht so ablehnend herüber, wie es vielleicht klingt; es schwang Bedauern mit. Ich glaube, ich weinte, natürlich nicht wirklich, was in meinem semi-physischen Zustand wahrscheinlich auch gar nicht möglich gewesen wäre, aber zumindest fühlte ich mich so, als würde ich weinen. Ich hatte geglaubt, meinen Hang zur übersteigerten Emotionalität hinter mir gelassen zu haben, dochnun überwältigte mich eine Flut der Liebe, und das brachte mich durcheinander.
Koh sagte etwas in dem Sinne, dass ich ihr bestimmt nicht gefolgt sei, bloß um sie wiederzusehen. Nur sagte sie es nicht in Worten, die irgendeinen Klang hatten oder eine Syntax; deshalb kann ich es nicht genau zitieren.
Ich erwiderte, dass ich auf jeden Fall gekommen wäre, zumal ich nach dem Opferspiel fragen wolle.
Sie bedeutete mir durch eine Geste, dass ich fragen möge.
»Was hast du am Ende des letzten B’ak’tuns gesehen?«, fragte ich.
»Ich konnte überhaupt nichts sehen«, antwortete sie.
»Das verstehe ich nicht. Ich habe dich beobachtet.«
»Es ist zu fern«, erwiderte sie. »Der Zufall ballt sich.«
Ich konnte es kaum glauben. Da hatte ich geglaubt, der Sache näher zu kommen, was
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