2030 - Chimaerenblut
allem die armen Bevölkerungsschichten betroffen, die sich erst hatten impfen lassen, als sie bereits erkrankt waren. Jeden Winter gab es Grippewellen. Die Impfungen gingen empfindlich an den Geldbeutel. Immer mehr Arme waren das Risiko der Ansteckung eingegangen und sparten sich die Impfkosten. Als schließlich die Große Influenza ausbrach und die Menschen elendig starben, ließen sich die Infizierten passiv impfen. Josi dachte daran, wie die Ärzte hoffnungsvoll die Schwerkranken geimpft hatten. Die Antikörper sollten heilend in die kranken Zellkerne eindringen, doch wie ein trojanisches Pferd nahmen sie noch etwas mit, ein x-beliebiges Tier-Gen. Angeblich konnte das niemand unter den abgeschotteten Laborbedingungen voraussehen. Für erprobte Freiversuche war keine Zeit. Auch Josi hätte zu den begünstigten Aktivgeimpften gezählt, wäre ihr Vater nicht ein kritischer Impfgegner gewesen. Im Grunde genommen, und das war die bitterböse Ironie des Schicksals, hatte er sogar recht behalten.
Josi knickte mit dem Fuß um und humpelte zur Seite.
»Was hast du?«
»Ich bin das Springen nicht gewohnt.«
»Ruh dich aus! Ich hol‘ dir eine Limo.«
Später in der Nacht, als sie nach den Tänzen auf der Straße Blasen an den Füßen hatten und in einer Samba-Bar saßen, erzählte Lenka wie sie sich auf den ersten Blick in Annak verliebt hatte. »Ein blaues und ein braunes Auge. Husky.« Sie lachte. Da sei es um sie geschehen. Fröhlich plauderte sie weiter über die Werkstatt, in der sie Autos zusammenschraubte, die besten Strände am Lake Michigan und die tollsten Pubs in der Stadt. Derweil tanzten in der Mitte des Raumes Verliebte eng umschlungen. Alligatorys umarmten Fishys , und sogar hier und da Doggys die Cats . Nur eine Gruppe von Horn- und Geweih-Chimären hielt sich laut singend an Bier und Schnäpsen fest. Josi vermutete Touristen aus der Schweiz.
Auf den Tischen flackerten Kerzen. Wachs tropfte auf das Teakholz. Schüsseln waren mit Hafer, Heu- und Hanfstangen, Kresse-Kugeln und getrockneten Schwarten gefüllt. Josi griff zum Salzstreuer und rührte in ihrem Wasser.
Annak zog Lenka auf die Tanzfläche und legte seine Arme um ihre Taille. Sie schmiegte sich an ihn, ihre langen braunen Haare fielen über seine Schulter. Josi standen vor Einsamkeit Tränen in den Augen. Sie sah an den beiden vorbei.
Jemand im schwarzen Anzug stand hinter der Tanzfläche und blickte zu Josi herüber. Ihr war der Blick unangenehm. Zu neugierig. Sie fühlte sich beobachtet und drehte sich weg.
»Kathi, jetzt wäre Zeit, mir zu erzählen, warum du nicht mehr bei Cats and Dogs arbeitest.«
Kathi kratzte mit ihren Krallen über den Tisch und hinterließ tiefe Rillen im Holz. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die Vorarbeiterin ist eine Doggy und hat keine Ahnung von Mode, jedenfalls nicht von sexy Katzenmode. Und außerdem ist die Frau eine Zicke.«
»Mit anderen Worten, man hat dich nicht angemessen gewürdigt.«
»Jetzt bleib mir bloß mit den Floskeln weg, Hunde sind Teammenschen und Katzen Einzelgänger.«
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Was haben nur alle Hunde gegen mich?« Kathi tunkte einen Finger in ihren Shake und leckte die tropfende Erdbeermilch ab. » Annak kann mich auch nicht leiden.«
»Er hatte früher eine Katzenfreundin. Hast du die lange Narbe an seinem Arm gesehen?«
»Na und? Das war schließlich nicht ich.«
»Das war ein Abschiedsgeschenk seiner Ex. Hat Lenka mir erzählt. Wie fändest du das?«
»Kein Ahnung.«
Josis Blick glitt hilfesuchend durch den Raum. Sie wollte nicht streiten. »Lass uns noch ein wenig feiern. Ja? Ich brauche Ablenkung. Die Zwillinge sind ganz schön anstrengend.«
Josis Blick blieb erneut an dem Mann im Hintergrund hängen. Er tanzte nicht und starrte schon wieder herüber.
Annak und Lenka kamen an den Tisch zurück.
»Was hast du Josi? War doch Alkohol in deinem Wasserteich?«, flachste Lenka.
Josi sprang auf und griff sich an den Hals. »Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Ich fühl mich beobachtet. Weißt du, mein Ex entpuppte sich als Stalker. Seither bin ich in diesen Dingen extrem sensibel«, flüsterte sie Lenka ins Ohr.
»Vielleicht bildest du dir das nur ein?«
»Nein, ich sehe den Mann ständig irgendwo auftauchen; vorhin auf der Plaza , glaube ich, dann an dem Straßen-Bistro und jetzt hier schon wieder.«
»Verstehe.« Lenka nickte. Ihre Schlappohren wackelten. »Dann sollten wir gehen!« Sie drückte dem Kellner einen Schein in die
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