206 - Unterirdisch
müsste sie sich sämtlich Knochen gebrochen haben. Sie blickte nach oben. Der wolkenverhangene Mond warf ein diffuses Licht durch das Loch, das unter ihren Füßen aufgebrochen war.
Was roch hier so bestialisch? Carah tastete den Boden unter sich ab. Er gab nach. Hier und da spürte sie Stoff und Fell unter ihren Fingern. War sie auf Säcken gelandet? Als sie aufstand, gab der Untergrund ein schmatzendes Geräusch von sich. Sie schwankte und fand Halt an einer Felswand. Eine Welle der Übelkeit stieg in ihr auf. Sie beugte sich vor und erbrach sich.
Die Verletzung am Kopf schien schlimmer zu sein, als sie zunächst angenommen hatte. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die Wand. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Dunkelheit.
Einen Steinwurf von ihr entfernt sah sie eine Öffnung im Fels. Carah wankte darauf zu. Verwitterte Stufen führten in ein Höhlengewölbe. Moderiger Geruch schlug ihr entgegen.
Immerhin besser als der Gestank in diesem Loch hier. Noch einmal schaute sie sich um.
Die Wolken hatten inzwischen den Halbmond freigegeben.
Er tauchte die Wände des Erdtrichters in ein bläuliches Licht.
Carahs Blicke streiften über die vermeintlichen Säcke. Bei ihrem Anblick gefror ihr das Blut in den Adern: Der Boden war übersät von Leichen! Verstümmelte Körper von Menschen und Tieren. Aus leeren Augen glotzten sie Carah an.
Keuchend stürzte die Stadtführerin durch die Öffnung. Sie stolperte die Stufen hinunter und taumelte durch das Gewölbe.
Unter ihren Füßen federte der Boden. Carah mochte gar nicht wissen, auf was sie da trat. Sie wollte nur raus hier, weg von diesem Ort des Grauens. Orientierungslos drehte sie sich nach allen Seiten. Die Höhle verzweigte sich in unzählige Gänge.
Wahllos entschied sie sich für einen und rannte los. Sie hatte ihn fast erreicht, als ein Scharren und Schnaufen daraus ertönte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Umrisse eines mächtigen Schädels schoben sich aus dem Gang. Ein Maelwoorm!
Die Gedanken tobten durch Carahs Kopf. Sie dachte an die Toten in dem Loch. Es musste einer der wilden Woorms sein!
»Bei Athikaya!«, keuchte sie. Sie wirbelte herum und floh zu einem der gegenüberliegenden Gänge. Hinter ihr brüllte der Maelwoorm. Und vor ihr öffnete sich der Rachen eines weiteren Woorms.
***
Auch am nächsten Morgen blieben die Stadtführerin und ihre Vertraute verschwunden. Zwei Jägerinnen kehrten mit einem Spurensucher am späten Vormittag aus dem Dschungel zurück.
Sie berichteten, dass sich die Spuren der Vermissten hinter dem Felsendom im Osten des Dschungel verliefen.
»Es ist der Wille der Göttin«, bemerkte die Priesterin trocken. Sie packte einige Schriftrollen und Karten in ihren Lederbeutel.
»Arah! Du willst sie doch nicht einfach so aufgeben! Bedenke den Bund der Drei!« Barah war empört.
»Ich habe sie vor dem Zorn der Göttin gewarnt. Schicke nach Jamila. Sie ist ihre Nachfolgerin.« Die Priesterin zog ihr Bündel zu und griff nach ihrem Umhang.
Barah dachte an die kleine Gruppe, die heute Morgen aufgebrochen war, um entlang der Gleise nach dem Bautrupp zu suchen. »Aber wir wissen ja nicht einmal, ob Jamila und die Leute des Bautrupps noch am Leben sind. Schließlich war das Zentrum des Bebens beim Riftvallej«, gab sie zu bedenken.
Ungerührt blickte die Priesterin sie an. »Dann finde es heraus! Oder tue, was du für richtig hältst! Du musst jetzt deine eigenen Entscheidungen treffen! Ich muss mich um die Angelegenheiten der Göttin kümmern. Das ist jetzt der einzige Dienst, den ich unserem Volk erweisen kann.«
Sie kehrte der Jägerin den Rücken und ging mit großen Schritten auf den Ausgang des Ratshauses zu. »Was auch immer du tust, meinen Segen hast du!«, rief sie Barah noch zu.
Draußen warteten drei ihrer Novizinnen mit Tsebras auf sie.
Arah wollte mit zwei der Woorms und einem Dutzend Enkaari zum Felsendom bei der Erdspalte.
Barah spürte, wie sich Verzweiflung und Wut in ihr breit machten. Bislang hatte sie sich meist an Carahs und Arahs Rat orientiert. Es fehlte ihr an der Weitsicht der erfahrenen Frauen.
Was sollte sie nun tun?
Sie trat hinaus auf die hintere Terrasse des Hauses. In der Ferne sah sie die beiden Maelwoorms, mit denen die Enkaari die einsturzgefährdeten Häuser sicherten. Überall in der Siedlung räumten die Leute Schutt und Steine in hölzerne Karren. Wachen patrouillierten an den Rändern der Stadt. Beim Asyl sorgte die künftige Priesterin Senja für die Menschen.
Auch die
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