2067 - Angriffsziel Terra
ungeheure Verlockung zu fühlen. Das waren die seltenen Augenblicke völligen Glücks, in denen er losgelöst von aller menschlichen Schwere in höhere Gefilde aufzusteigen versuchte. Vor Jahren hatten Freunde ihn dazu überredet, einen medizinischen Test zu machen. Das Ergebnis war negativ ausgefallen - er besaß nicht die geringste Veranlagung für Psi-Fähigkeiten. Das zu erfahren hatte ihn eine Stange Geld gekostet. Heute hatte er die Freunde nicht mehr. Seine Welt war das stählerne 200-MeterGefängnis der PHUKET, die bis vor kurzem auf Vermessungsmission im Milchstraßenhalo eingesetzt gewesen und vor zwei Standardmonaten ins Solsystem zu rückbeordert worden war. Weit draußen, an der Grenze zum Nichts, hatte Tirramy das Leben und die Einsamkeit genossen.
Die PHUKET war ein überwiegend automatisiertes Schiff. Im weitesten Sinn gehörte sie der LFT-Experimentalflotte an, wenn auch nicht dem teilautonomen HOST-REMOTE-System. Im Gegensatz zu der 210köpfigen PROTOS-Stammbesatzung kam „sein" Schiff mit 55 Crewmitgliedern aus. Er konnte stundenlang durch die Korridore laufen, ohne jemandem zu begegnen. Die Schaltflächen veränderten sich ohne sein Zutun. Das war die Standard-Kontrollabfrage durch NATHAN.
Das Verteidigungsministerium hatte ihm freigestellt, das Schiff zu verlassen. Er hatte abgelehnt. Weil dreieinhalb Jahre Weltraum-Einsamkeit eine Spanne war, die sich nicht einfach wegwischen ließ. Außerdem hatte er sich an die Crew gewöhnt. Als hätte Clifton seine Gedanken erraten, wandte er ihm kurz den Blick zu. Clifton war der Pilot. Auch er schien längst mit dem Schiff verwachsen zu sein; vor allem verließ er höchst selten die Zentrale. Jenssen war überzeugt davon, dass Clifton ihn bis ans Ende des Universums fliegen würde, wenn er nur darum bat. ... in einigen Wochen, sobald wir wieder draußen im Halo sind, schoss es ihm durch den Sinn. Mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand tippte er sich an die Schläfe und lächelte. Clifton erwiderte die Geste ebenso wortlos und wandte sich wieder den Kontrollen zu. Das Hauptholo zeigte den Saturn in voller Größe, umgeben vom filigranen Ringsystem, das in der Aufsicht eine unglaubliche Farbenpracht offenbarte. Die Schlagschatten der Monde wirkten wie winzige Tunnel-Wurmlöcher in eine andere Zeit. Was sich außerhalb des Sonnensystems anbahnte, hatte Tirramy von den Schirmen gelöscht. Die Arkoniden demonstrierten Stärke, aber sie würden über kurz oder lang unverrichteter Dinge abziehen.
„Nie und nimmer wird Terra ein zweites Ertrus." Ungewollt hatte er seine Gedanken ausgesprochen. In der Stille der Zentrale, in der sich nur das Raunen der Luftumwälzung mit den schwach wahrzunehmenden Triebwerksvibrationen vermischte, klang seine Stimme wie ein Sakrileg. Eine steile Falte erschien auf Cliftons Stirn. „Ich glaube", erklärte Tirramy, „wenn dieser Tag zu Ende ist, haben wir das Schlimmste hinter uns."
Die Zeitanzeige sprang soeben auf 20.34 Uhr um. „Kurskorrektur", kündete Clifton an. „Abweichung drei Strich neun wird kompensiert."Fast gleichzeitig reagierte die Distanzortung. Schon die ersten Daten ließen Jenssen erkennen, dass eine große Flotte im Sonnensystem materialisierte. Alle Lethargie fiel schlagartig von ihm ab, er benötigte nicht länger als zwanzig Sekunden, um die fremden Raumer zu identifizieren. Annähernd würfelförmige Schiffe mit einer Kantenlänge von zweitausend Metern und mehr, mit Aufbauten und Auswüchsen übersät: Fragmentraumer. Die auf Terra sehnsüchtig erwarteten Posbis waren endlich da.
Einige dieser Kolosse hielten Kurs auf den Saturn. Tirramy benötigte mehrere Augenblicke, die Ortungsanalyse umzusetzen. Aber dann brüllte er .los: „Ausweichmanöver, Clifton! Die fliegen Kollisions..." Gleißende Lichtfülle sprang von den Schirmen herab. Eines der Schwesterschiffe blähte sich wie eine Nova auf. Dass er lauthals schrie, registrierte Jenssen schon nicht mehr, denn das Chaos griff in derselben Sekunde nach der PHUKET.
Der Raum rings um das Schiff schien aufzureißen und den Raumer verschlingen zu wollen. Die Energien überluden die sich aufbauende Paratron-Schirmstaffel. Für einen außenstehenden Beobachter musste es den Anschein haben, dass sich ein halbes Dutzend Aufrissfronten blitzartig dem Schiff entgegenfraßen.
Innerhalb von Sekunden wurde nahezu das halbe Unterschiff verwüstet und von heftigen Explosionen in den Maschinenräumen auseinandergerissen.
Gierig fraß sich der Atombrand
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