21 - Im Reiche des silbernen Löwen II
die zerrissene Mauer führen?“
„Hm! Ich sehe sie; aber ich wundere mich, daß die Kanafid gerad da einen Gang gegraben haben sollen, wo du einen brauchst?“
„Brauchst? Ich brauche keinen, denn ich bin nicht gefangen. Ich verbinde Umstände, welche im Zusammenhang zu stehen scheinen, vollends miteinander, und ob ich da recht habe oder nicht, das hat keine Folgen für uns; aber dennoch werde ich diesen Hof hier morgen etwas eingehender untersuchen, als es jetzt möglich ist. Wir müssen uns beeilen, denn in zehn Minuten wird es vollständig dunkel sein.“
„Und das Versteck für die Pferde – – –?“
„Ist gefunden. Wir schaffen sie hierher.“
„Das denke ich auch. Sie werden zwar etwas klettern müssen, befinden sich dann aber hier so sicher wie im Schoße Ibrahims. Komm, holen wir sie!“
Die zehn Minuten waren noch nicht verflossen, so hatten wir die Pferde in dem Hof untergebracht und suchten dann unsern Lagerplatz wieder auf, weil wir eine etwaige Annäherung dort am leichtesten bemerken konnten.
Der Abendwind hatte sich erhoben; er kam aus nördlicher Richtung, und das war uns insofern lieb, als er uns, falls die Leute am Kanal je die Absicht hegten, nach der Ruine zu gehen, das Geräusch ihrer Schritte zutragen mußte. So vergingen wohl zwei Stunden, da begann Halef zu pusten und verdrießlich vor sich hin zu brummen, bis er dann in höchst ärgerlichem Ton fragte:
„Riechst du etwas, Sihdi?“
„Ja“, antwortete ich, denn ich hatte dieselbe Bemerkung wie er gemacht.
„Es beginnt sich in meiner Nase ein sehr schmerzliches Unbehagen zu entwickeln, und die Grundpfeiler der Gesundheit meiner Geruchsnerven scheinen ins Wanken geraten zu wollen. Ich glaube – – – ah – bah pschah – – – pfui! Das wird ja immer schlimmer. Das ist schon kein Geruch mehr, sondern ein Höllenduft, grad als ob eine Leichenkarawane hier vorüberzöge!“
„Sie wird wohl auch kommen!“
„Wer –? Was – – –? Die Leichenkarawane?“
„Ja, wenn auch keine große, wie wir damals gesehen haben. Man riecht ganz deutlich, daß sie immer näher kommt. Verhülle deine Nase, aber öffne deine Ohren desto mehr. Horch!“
Wir hörten Schritte, welche in nicht sehr beträchtlicher Entfernung an uns vorübergingen; einzelne kurze Worte, wie Kommandorufe, ließen sich vernehmen; dann wurde es wieder still.
„Allah sei Dank, sie sind vorüber!“ seufzte Halef erleichtert auf. „Der Wind hat ihre Düfte mitgenommen, und wir können nun wieder Atem holen.“
„Das magst du tun; ich aber werde diese Wohlgerüche noch länger genießen, denn ich will ihnen folgen.“
„Folgen? – Warum?“
„Ich muß wissen, wer sie sind und was sie hier treiben.“
„Oh, Sihdi, laß sie tun, was ihnen beliebt. Was kann es dir für Nutzen bringen, wenn deine Augen sie sehen, aber deine Nase für immer krank und elend wird!“
„Das Wohlbefinden meiner Nase muß mir jetzt leider gleichgültig sein. Ich bin nun überzeugt, daß es sich wirklich um die ‚Leichen‘ handelt, welche der Säfir erwartet, und möchte gern wissen, was es mit ihnen für eine Bewandtnis hat.“
„Gar keine, jedenfalls gar keine weiter, als daß es gewöhnliche Leichen sind, welche nach Kerbela oder Meschhed Ali geschafft werden sollen.“
„Nein! Der Bote, welcher von ihnen sprach, betonte das Wort in ganz eigentümlicher Weise. Und gewöhnliche Leichen würde man auch auf dem gewöhnlichen Weg transportieren, nicht aber so heimlich den Euphrat hinab, in den Kanal hinein und dann auf Menschenarmen noch hierher.“
„So willst du ihnen also wirklich nach?“
„Ja.“
„Dann laß' ich dich nicht allein fort; ich gehe mit.“
„Das ist nicht nötig; ich brauche dich nicht.“
„Ob du mich brauchst oder nicht, geht mich nichts an. Sollst du etwa den Teufelsgestank allein einatmen, während ich hier in den schönsten, reinsten Lüften schwelge? Ich bin mit dir geritten, um alles, aber auch alles, was dir begegnet, mit zu erleben; also will und muß ich nun auch hier meinen Teil von diesen beglückenden Gaben der Verwesung haben. Wenn du mich nicht freiwillig mitnimmst, laufe ich dir heimlich nach; darauf kannst du dich verlassen!“
„Es ist mir nicht lieb, Halef, wirklich gar nicht lieb, daß du mitgehen willst!“
„Aber warum?“
„Ich habe deiner Hanneh versprochen, daß – – –“
Da fiel er mir schnell in die Rede:
„Schweig, Sihdi, schweig! Was du ihr, der Wonne meines Herzens und der
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