2109 - Tagebuch der SOL
Trübsalblasen zuschauen? Uns dem Nichtstun ergeben, dahinvegetieren und auf den großen Tag warten, der vielleicht nie kommt?" Shoy wandte sich seinen Artgenossen zu. „Wenn wir das wollten, hätten wir das hier nie aufgebaut, richtig?"
Beifall und Zustimmung kamen auf, zuerst zögernd, dann zusehends mutiger und entschlossener.
Stap Crumeros Haut nahm einen bleichen Rosaton an. „Ihr werdet gehorchen."
„Nein", sagte Shoy ruhig. „Wir bleiben hier. Wir werden die Scherbenstadt vergrößern, wie es uns beliebt, und jeder wird uns willkommen sein, sogar du, Lord-Eunuch. Wir werden uns das Wissen der Terraner aneignen, um zu erwägen, wo wir überhaupt leben können. Sie sind unsere Freunde und wir sind ihre Freunde. Ohne dass wir unsere Identität aufgeben müssen, können wir nebeneinander und miteinander existieren, in einer harmonischen Gemeinschaft. Denk darüber nach, Stap."
„Ich werde..."
„... das akzeptieren, weil du keine andere Wahl hast. Wir müssen diese Auseinandersetzung beenden, denn sie ist Gift für unseren Fortbestand. Ich will nicht, dass wir uns in zwei Lager spalten. Deshalb sage ich dir ja, dass du weiterhin willkommen bist. Und wir werden weiterhin die Sektion besuchen und uns dort aufhalten. Solange wir dort sind, werden wir deine Regeln respektieren, das verspreche ich dir. Aber hier, in der Scherbenstadt, gilt das nicht mehr. Dies ist eine neue Welt, die wir nach unseren Regeln gestalten, und du wirst sie respektieren, so, wie wir deine respektieren. Ich finde, das ist ein Kompromiss, der beiden Seiten gerecht wird."
Shoy entspannte in einer versöhnlichen Geste die Ganglionausläufer.
Stap Crumero wandte sich seiner Gefolgschaft zu und musste erkennen, dass er allein auf weiter Flur stand.
Selbst seine engsten Berater zeigten erleichterte Mienen über Shoys Angebot.
Sie hatten wohl einen Schritt weiter gedacht. Es brachte unter Umständen nur noch mehr Schaden, wenn die Aufsässigen unfreiwillig in der Sektion waren. Und es war deutlich zu erkennen, dass die Jungen nicht aufgeben würden. Sie repräsentierten einen Neubeginn, und die Alten hatten verloren. Es musste einiges neu überdacht werden.
Der Lord-Eunuch drehte sich wieder zu Shoy Carampo um. „Das ist Erpressung", warf er dem jungen Mom'Serimer vor. „Aber ich akzeptiere es, wenn ich mir selbst treu bleiben will. Du wirst Frieden halten, wenn du in der Sektion bist, und nicht versuchen, eine heimliche Wahl durchzuführen. Jeder Mom'Serimer muss selbst entscheiden, wo er leben will, und du hast zu Beginn behauptet, meine Position nicht angreifen zu wollen."
„Das verspreche ich, Stap. Aber besuche uns doch hin und wieder, um zu sehen, was wir tun. Vielleicht begreifst du eines Tages, worum es uns geht."
Der Lord-Eunuch sagte darauf nichts mehr. Er drehte sich um und verschwand wortlos. Seine Gefolgschaft ging mit ihm.
4.
Notrast Die Auseinandersetzung zwischen Shoy Carampo und Stap Crumero nahm keine ernsten Ausmaße an. Beide hielten sich an ihre Versprechen, aber es gab keiner nach.
Die Mom'Serimer waren ohnehin viel zu schnelllebig, um in einen längeren Konflikt zu geraten. Vor allem die Jungen waren viel zu sehr auf das Hier und Jetzt ausgerichtet, und die Artgenossen mittleren Alters hatten zumeist genügend damit zu tun, Nachkommen zu zeugen und zu versorgen. Tatsächlich nahm die Geburtenrate zu. Der plötzliche Wegfall der Beschränkungen in Nacht-Acht, die Sicherheit und Geborgenheit wirkte, sich äußerst positiv auf den Hormonspiegel aus. Shah war nicht die Einzige, die ein zweites Kind gebar. Die meisten SOL-Geborenen wuchsen in der neu geschaffenen Kindersektion in der Scherbenstadt auf, die täglich größere Ausmaße annahm und zudem komfortabler wurde.
Die Mom'Serimer waren ein äußerst friedfertiges Volk, Aggressionen waren ihnen ziemlich fremd. Selbst Stap Crumero zog sich verbittert in sein Schneckenhaus zurück und wich Shoy Carampo in Zukunft lieber aus, als sich erneut mit ihm auseinander zu setzen. Sie hatten gar keine Zeit für Zwist. Die meisten Mom'Serimer fühlten sich seit der Klärung der Fronten besser und nicht mehr so verunsichert. Auch wenn die Mehrheit zwangsläufig immer noch in der Sektion wohnte, gab es häufig Besuche bei Verwandten und Freunden in der Scherbenstadt.
Außerdem fingen die Mom'Serimer an, die SOL zu entdecken. Icho Tolot war es gewesen, der sich als „Reittier" für „Sightseeing"-Ausflüge anbot und dabei eine Menge Wissen vermittelte. Als
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