212 - Beim Stamm der Silberrücken
und seine Furcht zu überwinden – er packte seine Waffe am Lauf und stürzte an Mogbars Seite. »Helft uns!«, brüllte er. »Helft uns! Wir müssen sie vertreiben! Sie töten ihn sonst!« Er holte aus und drosch mit dem Gewehr auf die Geier ein. Etwas richtete sich vor ihm auf und fauchte, und stinkender Atem wehte ihn an.
Ein Schnabelhieb erwischte ihn an der Schulter, ein Schwingenschlag traf ihn an der Brust und schleuderte ihn ins Gras. Aus den Augenwinkeln sah er Major Mogbar straucheln.
Und plötzlich wieder Geschrei von allen Seiten. Schatten glitten durch die Nacht. Menschen gingen zu Boden, Geier flatterten auf und schrien wütend. Schüsse fielen.
Die Löwen waren zurückgekommen. Drei Raubkatzen trieben Menschen und Geier in die Flucht, zwei schleppten Wilsons von Schnäbelhieben zerfleischten und noch zuckenden Körper davon, einer griff Dagobert an. Leila sah es genau, denn es geschah nur zwei Schritte neben ihr: Die Löwin zog Dagobert die Pranke über Gesicht und Brust. Er fiel wie eine Marionette, deren Fäden jemand von einem Moment auf den anderen abgeschnitten hatte. Die Löwin warf sich auf den massigen Mann, doch Feuerstöße aus Mogbars und Percivals Waffen trafen sie mitten im Sprung, und als ihr schwerer Körper den reglosen Dagobert bedeckte, war sie schon tot.
Leila sah das alles, und zugleich sah sie ein halbwüchsiges, panisch schreiendes Mädchen auf dem Kutschbock eines Pferdewagens sitzen.
Sie war damals dreizehn Jahre alt gewesen und mit ihrem Großvater ausgefahren. Eine Herzattacke raubte ihm für einige Sekunden die Besinnung, sodass ihm die Zügelleine entglitt.
Als er zu sich kam, schrie er vor Schmerzen. Die Pferde gingen durch, und Leila klammerte sich an ihren Großvater. Das Gespann galoppierte auf eine stark befahrene Kreuzung zu, es gab keine Rettung mehr.
Genauso unaufhaltsam fühlte Leila sich jetzt, knapp zwanzig Jahre später, vom Angriff der wilden Tiere überrollt.
Das Verhängnis war perfekt und erschien ihr unabwendbar.
Aus einem Grund, den niemand je hätte benennen können, blieben die Pferde damals kurz vor der Kreuzung stehen. Da war Leilas Großvater schon tot.
Aus einem Grund, den Leila nicht kannte, verstummten plötzlich Schreie, Schusslärm, Löwengebrüll und Geiergeflatter um sie herum. Sie kniete im Gras, und die Feuchtigkeit des Bodens kroch in ihre Knie. Sie erwartete den Prankenschlag eines Löwen oder den Schnabelhieb eines Geiers. Doch nichts dergleichen geschah. Es war vorbei. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
Sie öffnete die Augen: Percival ging neben ihr in die Hocke.
Sie sah, wie Major Mogbar und Goodman den Löwenkadaver von Dagoberts Körper wälzten. Dagoberts Gesicht war ein roter, zerfetzter Lumpen. Er hob beide Arme und stieß einen gurgelnden Fluch aus. Percival schloss Leila in die Arme. Eine Zeitlang weinte einer an der Schulter des anderen.
Am nächsten Tag fanden sie Wilsons Kopf, einen Teil seiner Wirbelsäule und die sauber abgekauten Rippen seines Brustkorbes zwei Meilen südwestlich des Seeufers. Von zwei anderen Männern fehlte jede Spur.
Dagobert verlor eine Menge Blut. Die Wunden, die ihm der Prankenschlag der Löwin beigebracht hatte, entzündeten sich.
Es gab kein Antibiotikum mehr an Bord der Boeing. Der Engländer hatte eine Pferdenatur: Drei Wochen lang lag er im septischen Fieber, bevor er starb. In dieser Zeit griffen Löwen, Geier und Adler das Flugzeug und den Helikopter fast täglich an. Mehr als ein Dutzend Männer und Frauen kamen ums Leben.
Das war die eine Seite. Die andere: Löwenfleisch stellte sich schnell als durchaus genießbar heraus. Und mit dem Brustgefieder der Geier konnte man Kissen füllen, die man aus den Kleidern der Toten genäht hatte.
Die schiere Not zwang die Menschen dazu, sich zusammenzuraufen. Carol Berger, Kevin Goodman und Ron Fisher bildeten eine Regierung mit Tom Percival, Leila Dark und Major Mogbar. Sie nannten sich Überlebensrat. Eine straffe Organisation sorgte dafür, dass die ersten Jahre über kaum Hunger herrschte und keine Seuche ausbrach.
Von etwa hundertzwanzig Menschen im März 2012 lebten im Dezember 2015 immerhin noch mehr als siebzig. Neun Kinder kamen in dieser Zeit zur Welt. Jede Geburt wurde als Zeichen der Hoffnung aufgefasst und ausgelassen gefeiert.
Ende 2015 griff eine Elefantenherde den Helikopter an, zerstörte ihn und zertrampelte fünf Männer und zwei Frauen.
Percival, Leila, Major Mogbar und die Frauen ihrer Gruppe zogen endgültig
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