2232 - Wiedergeburt
ersticken.
Entsetzt fliehe ich vor der Lawine, gerade noch rechtzeitig, bevor ich keiner Regung mehr fähig wäre.
Ich springe, fädle mich aufs Geratewohl in den erstbesten erreichbaren Datenstrom ein. Lasse mich mitreißen, beschleunige mit aller Kraft – und schaffe es, meine Bedränger abzuschütteln. Sogar einen kleinen Vorsprung hole ich heraus, indem ich an Verteilerknoten abrupt die Richtung wechsle. Doch rasende Flucht kreuz und quer durchs System stellt keine dauerhafte Lösung dar. Ich kann unmöglich ständig davonlaufen, in blinder Konfusion und bar jeder Orientierung!
Meine Verzweiflung wächst. Nirgends bietet sich Schutz, nirgendwo ein Ort, um zu verschnaufen. Die Informationen sind überall, und überall formieren sich, kaum dass ich auftauche, Tausendschaften von ihnen zu Schwärmen, die sich auf mich stürzen.
Wie Myriaden von Fliegen, nein: Stechmücken auf ein verwundetes Tier. Obwohl es sich natürlich um keine Attacke handelt, sondern schlicht um Reizüberflutung.
Das weiß ich, aber es hilft mir kein bisschen.
Während ich weiter und immer weiter hetze, versuche ich mich zu fassen, meine fahrigen Gedanken zu ordnen. Das fällt nicht leicht in Todesangst.
Ruhig, ganz ruhig. So darf es nicht enden, nicht nach allem, was ich schon überstanden habe. Es gibt einen Ausweg, muss einen geben!
Mein früheres Ich hat gewiss für eine solche Situation Vorsorge getragen. Wenn ich mich einigermaßen richtig einschätze, muss ich mit solchen Kalamitäten gerechnet haben. Kenne – kannte – mich schließlich mindestens ebenso gut wie das, wohin es mich verschlagen würde. Rennend, fliegend, tauchend – keines dieser Wörter trifft für sich allein die Art der Fortbewegung in den Datenkanälen – probiere ich an der Brille herum. Vielleicht kann ich sie modifizieren ... Doch meine Bemühungen fruchten nicht. Die Fähigkeiten dieses Programms sind ausgereizt. Gleiches gilt für den Schlüssel. Seit sich das System derart massiv erweitert hat, ist er nutzlos geworden. Ich kann damit keinen Einfluss auf die Architektur des Netzes mehr nehmen. Die Kapazität des Konstrukts verhält sich zu der Unmenge an Informationen wie die Feuerkraft einer Wasserpistole zu den Energien, die bei einer Raumschlacht freigesetzt werden.
Deprimiert und zugleich wütend über meine Hilf- und Ratlosigkeit, will ich das ausgediente Spielzeug fortwerfen, das überholte Programm löschen. Wozu es länger mitschleppen? „Von Ballast muss man sich trennen, wenn die Umstände es verlangen."
Dieser Satz hat einmal eine tiefe, schmerzliche Bedeutung für mich gehabt. Er hat mein Leben verändert, und das nicht zum Besseren. Das weiß ich noch.
Aber vielleicht ist es genau das, was mein früheres Ich von mir erwartet? Ballast abwerfen ...?
Welchen Zweck hat eigentlich der Anhänger erfüllt, das kleine, schmuddelige Stofftier?
Keinen. Zumindest bis jetzt hat der an einer dünnen Kordel vom Schlüssel baumelnde Plüsch-Maulwurf nur ein unnötiges Anhängsel dargestellt.
Ballast.
Einen Versuch ist's wert. Während ich wieder einmal Haken schlage, um einen Schwärm digitaler Quälgeister abzuhängen, knüpfe ich den Maulwurf los. Und dann werfe ich ihn, schleudere ihn vor mich in den Datenstrom.
Noch im Flug verwandelt sich das freigesetzte Programm. Das kleine Tier erwacht zum Leben. Und es ist keineswegs „blind", sondern scheint sich ganz im Gegenteil bestens zurechtzufinden. Zielstrebig eilt es mir voraus, so schnell, dass ich Mühe habe, ihm zu folgen.
Wieder einmal erweise ich im Geiste mir selbst Reverenz, während mich der digitale Scout durch das System geleitet. Er wählt Routen, auf die ich allein nie gekommen wäre, nicht zufällig und schon gar nicht absichtlich. Der Maulwurf aber scheint sehr genau zu wissen, wo er hin will. Durch eine unscheinbar dünne, inaktiv wirkende Datenkanüle gelangen wir schließlich an einen seltsamen Ort. Innerhalb meterdicker Wände aus massiven Konstanten öffnet sich eine kugelförmige Blase, und darin schwebt eine mathematische Struktur von berückender, mit Worten kaum zu beschreibender Schönheit.
Am ehesten ähnelt sie einer Skulptur aus Wasser, das ständig den Aggregatzustand wechselt. Ein Hort aus Schnee und Dampf, aus Fontänen und Eisblumen, flüssig, fest und gasförmig zugleich. Ergriffen stehe ich vor der leuchtenden, Eiseskälte ebenso wie Gluthitze verströmenden Kugel. Fast kann ich nicht glauben, dass ich der Schöpfer dieses Wunderwerks gewesen sein soll.
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