2254 - Der ewige Gärtner
Sie waren noch nicht besiegt. Er musste kämpfen. Und mit jedem Schritt wurde es schwerer.
Sicher, er konnte eine von den roten Früchten essen, aber das bedeutete nur einen weiteren Aufschub. Es hatte schon zu viele gegeben.
Er trat aus dem Wald. Vor ihm ragte der Dom auf, im strömenden Regen und der Dunkelheit nur ein in den Himmel wachsender Schatten. Orrien Alar spürte, wie Hitze sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Beine wurden schwerer, die Bewegungen unsicherer.
Er spürte die Kapsel in seiner Hand. Es war, als ob sie ihm die nötige letzte Kraft gäbe.
Als wolle sie ihm einflüstern: Tu es!
Orrien Alar betrat den Domhof. Zum ersten Mal seit unendlicher Zeit sah er Licht aus einigen Fenstern des Heiligtums dringen, so wie in den alten Tagen, vor dem Ende der Ewigkeit.
Sie waren noch da! Vielleicht blieben sie, womöglich für immer! Vielleicht waren sie nur die Ersten, die Vorhut. Vielleicht folgten ihnen andere, die den Dom wieder mit Leben erfüllten ...
Der ewige Gärtner hatte die Mitte des Domhofs erreicht, und plötzlich war die Angst verschwunden. Er fühlte sich, als ob er schwebte, als er sich niederkniete und die Samenkapsel in der Erde vergrub. Danach glättete er den Boden wieder.
Es war getan. Jetzt konnte er nur hoffen.
Der Weg zurück in den Wald fiel ihm leichter als der in den Dom. Er hatte seine Pflicht getan. Er fühlte sich frei wie seit langem nicht mehr. Fast beschwingt stieg er in seine Wurzelhütte und vertraute seine Tat der Chronik an. Er brachte es sogar fertig, etwas zu essen, bevor er sich hinkauerte und das tat, womit er sich die Zeit des Wartens am besten vertreiben konnte. Denn an Schlaf war nicht zu denken. Er war viel zu aufgekratzt. Er wollte seine Geschichte weiterhören. Er wollte, dass der Kreis sich schloss.
Mit ruhiger Hand startete er die Chronik an der vorher markierten Stelle. Die Stimme des Geräts - seine eigene Stimme - erklang aufs Neue. Orrien Alar ließ sich abermals darin versinken ..
7.
Gestern (Die Chronik des Gärtners: Die furchtbaren Jahre) Als er sich seiner wieder bewusst wurde, steckte er in den vom Leben verlassenen Überresten seiner alten Hülle. Es war nicht das erste Mal, er hatte es hunderte Male erlebt, aber es war immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl, zu sich zu kommen und zu wissen, wieder zu leben, für einige weitere hundert Jahre.
Es dauerte eine Weile, bis Alar die Benommenheit endgültig abgeschüttelt hatte. Er erinnerte sich an alles, was er im vorigen Leben - und all den vielen Leben davor - auch gewusst hatte. Er konnte es nicht erklären, aber in der Zeit, in der sein alter Körper wie tot dalag und der neue noch nicht aus ihm herausgewachsen war, musste er über zwei Gehirne statt einem verfügen. Einmal das alte mit all seinem Wissen und dann das neue, in das dieses Wissen kopiert wurde. Nichts ging dabei verloren - bis auf das eine Mal, als der Vorgang nicht so funktioniert hatte wie sonst. Es musste ein solches Mal gegeben haben, bei dem die Erinnerung an sein erstes Werden abhanden gekommen war, Orrien Alars Herkunft, seine wirkliche, seine erste Geburt.
Der ewige Gärtner unterschied sich in seinem „neuen" Körper nicht von dem alten - nur einmal abgesehen davon, dass er noch kleiner war. Im Laufe der nächsten Monate würde er aber seine volle Größe wieder erreicht haben. Der neue Körper war frisch und kräftig - und Alar hatte einen mächtigen Hunger.
Er stillte ihn, indem er damit begann, die Überreste seines alten Körpers zu verspeisen.
Es war das einzige Mal, dass er sich von totem Fleisch ernährte. So wurde das Alte dem Neuen zugeführt, bis nichts mehr übrig war. Erst dann war der Vorgang der Neugeburt abgeschlossen, und der Gärtner würde sich fortan nur noch von Pflanzen und ihren Früchten ernähren.
Es vergingen drei Tage, bis der letzte Rest der alten Hülle vertilgt war. Orrien Alar ging zurück in den Wald. Er war voller neuer Lebensfreude, die nur durch die Erinnerung an den gescheiterten Versuch getrübt wurde. Es war ihm nicht gelungen, die Samenkapsel zum Keimen zu bringen, aber er tröstete sich damit, dass er noch genug von ihnen besaß. Irgendwann würde es klappen. Vielleicht war die Zeit einfach noch nicht reif dafür gewesen.
Die Welt, seine Welt, begrüßte ihn freudig. Um ihn herum pulsierte das Leben. Er genoss es mehrere Stunden lang, bevor er in die Wurzel zurückstieg. Getrunken hatte er aus der Quelle, Hunger hatte er noch keinen. Es drängte ihn
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