227 - Herr des versunkenen Reiches
Strapazen der Reise. Einverstanden?«
Sie sahen sich beide nach Aruula um – und bemerkten erst jetzt, dass sie auf der gewachsenen Liege weggedämmert war. Sie lächelte im Schlaf.
»Einverstanden«, antwortete Matt mit gedämpfter Stimme – und leicht enttäuschter Miene. So wie Aruula dalag, hätte er gern mehr unternommen, als ihr beim Schlafen zuzusehen.
Aber auch das hatte Zeit. Wenn er sich nicht irrte, würden sie lange Zeit hier unten am Grund des Marianengrabens verbringen. Und das Beste daran: Er freute sich darüber wie ein kleines Kind!
***
Mitternacht. Eisiger Wind fauchte über den Pazifik, schäumte die Wellen auf und ließ sie donnernd herunter schlagen. Wolkenfetzen trieben den Himmel entlang; so eilig, als würden sie irgendwo erwartet. Zwischen ihnen stand der Mond, umringt von einer Aura in der Farbe von Blutorangen. Dämonenauge nannten das die Abergläubischen und sperrten ihre Türen und Fenster zu, um das Böse fern zu halten.
Elftausend Meter unter dem Meer dachte zu dieser Stunde niemand an Geister oder Dämonen. Die Menschen schliefen. Quart’ol war auf dem Weg zu seiner Behausung; er hatte sich entschieden, den beiden Marsianern erst am Morgen – der sich hier unten nur in der gesteuerten Beleuchtung der Stadt messen ließ – von ihren unverhofften Gästen zu erzählen. Vermutlich lagen Vogler und Clarice Braxton auch längst in ihren Betten; beziehungsweise der Waldmann in seiner Hängematte.
Draußen wogte der Gezeitenstrom. Mondlicht hatte ihn nie berührt; das würde es auch nie, und doch konnte man den Einfluss des fernen Erdtrabanten selbst hier unten spüren. Die nachtaktiven Jäger von Gilam’esh’gad – Fische, Krebse, Tiefseeschlangen – waren bei Vollmond auffällig aggressiv, hielten noch blutigere Ernte unter den Schlafenden als sonst. Maulbrüter waren eine bevorzugte Beute, spuckten sie doch im Todeskampf ihre Jungen aus, gleichsam als Dessert. Wandermuscheln und die winzige Kiemenschildkröte, das Wappentier der Stadt, wurden gleich zu Tausenden zerknackt. Und die Seepferdchen! Wie mutig und vergeblich versuchten sie einander zu beschützen!
Es waren lauter kleine Dramen, die sich da im Flockengestöber des Schlotwegs abspielten. Matt und Aruula bemerkten nichts davon. Ein Anderer dafür umso mehr.
Als die Strömung den Blutgeruch im Wasser an die Außenbezirke trug, erwachte der Krake aus seiner Ohnmacht. Er war beim Herabsinken von der Schleuse ein Stück abgetrieben und lag jetzt, in Baumalgen verheddert, am Rande des Parks. Wütend begann das riesige Tier zu kämpfen. Man hatte ihm übel mitgespielt – erst der Treffer der Bordgeschütze, der ein meterlanges Tentakelstück absprengte, dann der Betäubungsschuss des Fischmannes mit seiner verheerenden Auswirkung auf den Kreislauf.
Die ganze Krakenfamilie, vom kleinen Nautilus bis hin zu den Tiefseegiganten, besaß einen Intelligenzquotienten, der mit dem der Ratten vergleichbar war. Einzelne Exemplare waren sogar noch klüger – so wie dieses Exemplar. Jemand in Gilam’esh’gad hatte ihm einen Namen gegeben: Korr’ak, das bedeutete mächtiger Freund.
Kaum hatte der mächtige Freund sein Gleichgewicht wieder gefunden und die siebeneinhalb Tentakel aus ihren Algenschlingen befreit, begann er zu suchen. Sein knochenloser, sackförmiger Kopf ruckte hin und her, trieb Wolken von Bodenpartikeln hoch. Unangenehm menschliche Augen ließen ihren Blick über die nächtliche Unterwasserlandschaft wandern. Irgendwo mussten seine Peiniger stecken! Die Frage war nicht, ob er sie finden würde, sondern wann. Korr’ak setzte sich in Bewegung.
Zur selben Zeit fuhr in Shaa’quil, dem ehemaligen Fabrikgelände und späteren Mahnmal von Gilam’esh’gad, ein Mar’os-Hydrit urplötzlich aus dem Schlaf hoch.
Agat’ol hatte schlecht geträumt. Von Riesenaugen in der Farbe der Blutorangen, von lautlos durch die Stadt gleitenden Fischsauriern, groß wie ein Haus… und von Quart’ol. Das alles zusammen war keine gute Mischung. Schon gar nicht, weil Agat’ol beim Wachwerden einfiel, dass diese Traumbilder seinem Gedächtnis entsprangen und nicht der Fantasie.
Der Mar’osianer ließ sich auf den Rücken sinken und starrte auf einen Punkt jenseits der Algen durchwobenen Finsternis. Irgendwo da oben, unendlich weit entfernt, gab es Brandung, den Nachtwind, verlassene Strände. Dort trafen sich Mar’os-Anhänger gern zu ihren bei den Ei’don-Hydriten so verpönten Gelagen. Man fraß, lachte und liebte sich bis
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