227 - Herr des versunkenen Reiches
ihnen.« Er legte Yann eine Flossenhand auf die Schulter. »Verzweifle nicht, Nefertari«, sagte er tröstend. »Die meisten der Anlagen sind zwar ohne Strom, aber intakt. Ich bin sicher, dass wir einen Klonkörper für dich anfertigen können. – Und auch du, Yann Haggard, darfst die Hoffnung nicht sinken lassen. Wir finden sicher eine Lösung…« Er straffte seinen kleinen Körper und lächelte. »Nun bringe ich euch erst einmal ins Zentrum. Da ist die Stromversorgung intakt und es gibt passende Quartiere für euch, mit allem Komfort. Ihr werdet staunen!«
***
Die Tauchfahrt zur Stadtmitte dauerte nur ein paar Minuten. Leider. Geisterstadt hin oder her – wenn es nach Matt gegangen wäre, hätten sich die Gefährten jetzt und sofort auf einen mehrstündigen Ausflug begeben. Es gab so viel zu erzählen, zu betrachten, zu erforschen! Wie konnte es sein, dass elftausend Meter unter den Pazifikwellen ein Park existierte? Gab es eine Möglichkeit, das Bestiarium zu besuchen? Wenigstens einen der Saurier zu sehen, die dort leben sollten? Und dann die wundervoll erhaltenen Bauten von Gilam’esh’gad, eins fremdartiger und pompöser als das andere! Durfte man sie betreten? Welche Funktion hatten sie?
Matt war hellwach, als ihn Quart’ol durchs Zentrum lotste. Vergessen alle Anstrengung, alle Erschöpfung. Müdigkeit? Nie gehabt! Wozu diente das Gebäude da vorn, das aussah wie eine überdimensionale Spindel? Und der verwaiste Sandplatz dort drüben, mit dem bunten Korallenzaun! Waren die großen, kunstvoll geschwungenen Muschelwippen eine Art… Spielzeug? Hatten hier einst Hydritenkinder getobt?
Quart’ol beantwortete geduldig alle Fragen, warf dabei den einen oder anderen mitleidigen Blick zu Yann hinüber. Doppelte Enttäuschung hatte sich auf seiner Miene niedergeschlagen.
Auch die schöne Barbarin fand keinen Zugang zur fantastischen Welt der Tiefsee. Aruula war ein Kind des Lichts, wollte Erde unter den Füßen spüren und das Rauschen der Wälder hören. Hier unten aber, in gelbgrüner, von treibenden Wasserpflanzen durchzogener Dämmerung und der stets präsenten Gefahr des Ertrinkens, rauschte nur das eigene Blut in ihren Ohren.
»Wir sind gleich da«, sagte Quart’ol aufmunternd. »Setzt schon mal die Helme auf und schließt eure Druckanzüge!« Er wandte sich an Matt. »Dieser Prototyp ist eine höchst interessante Weiterentwicklung! Wo hast du ihn her?«
»Wir haben ihn uns… ausgeliehen«, sagte Matt. »Aus einer eurer verlassenen Forschungsstationen.« Er grinste schräg und zog den Helm über den Kopf.
»Verstehe.« Ein leises Lächeln huschte um Quart’ols Mundwinkel. »Wir werden ihn also zurückgeben. Irgendwann. Aber vorher musst du mir unbedingt zeigen, was er kann! Diese ganzen Extrafunktionen…«
»Nicht anfassen!« Matt hielt seine Hände schützend über die Steuerung. »Ich führ’s dir gerne vor, auch den Turboantrieb. Aber drück bloß nirgends drauf! Das Ding hat ein paar böse Tücken!«
»Turboantrieb?«, fragte Quart’ol gedehnt. Ungewohnter Glanz überzog die dunklen Hydritenaugen.
Matt nickte. »Geht ab wie ‘ne Rakete! Äh – wie ein Orrik.«
Orriks zählten zu den schnellsten Fischen der Ozeane, das erweckte Quart’ols Neugier. Sicher, er war ein renommierter Wissenschaftler und hatte bereits zwei volle Lebenszyklen hinter sich. Aber deshalb musste er sich ja nicht jeden Spaß versagen. Ob man denn mal eine Probefahrt machen könne, wollte er wissen. »Morgen!«, fügte Quart’ol rasch hinzu, als er das Räuspern der Barbarin hörte und sich leichtsinnig umdrehte. Aruulas Finsterblick verfolgte ihn, als er Matt weiter durchs Stadtzentrum lotste. In langsamer Fahrt.
Unterwegs berichtete Quart’ol, dass er ein Archiv entdeckt habe, in dem die Baupläne von Gilam’esh’gad lagerten. Viele waren der Zeit zum Opfer gefallen. Doch das noch vorhandene Material gewährte einen interessanten Einblick in die Denkweise antiker hydritischer Architekten. Sie hatten zum Beispiel das Stadtzentrum auf einem Wegenetz erbaut, das den Himmelsrichtungen folgte, und dabei eine konsequente Trennung vorgenommen. Alle Nord-Süd-Verbindungen waren breite Promenaden, die nach der Farbe ihrer Muschelbeschichtung benannt waren und von öffentlichen Gebäuden flankiert wurden. Was nach Osten und Westen führte, trug den Namen örtlicher Besonderheiten und war erheblich schmaler. Dort standen die Wohnhäuser.
Matt fragte sich, warum überhaupt unter Wasser Straßen angelegt worden
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