227 - Herr des versunkenen Reiches
kaum merkliches Geräusch ließ ihn aufsehen. Shaa’quil war ein gefährlicher Ort, besonders nachts, wenn das unheimliche Jagdvolk der Tiefsee um die Ruinen streifte. Man tat gut daran, den furchtlosen Allesfressern aus dem Weg zu gehen und nie im Freien zu schlafen. Agat’ols Unterschlupf war ein altes Werkzeugdepot. Es stand auf dem Gelände einer Ziegelei, zwischen riesigen Vorräten an Korallenstücken. Sie waren nach Farbe getrennt gewesen, damals, als der Außenbezirk noch existierte. In der Nacht seiner Zerstörung hatten sie fallende Gebäudeteile abgefangen und so das kleine Lagerhaus gerettet.
Richtige Fenster besaß es nicht, denn Werkzeug brauchte keinen Ausblick. Allerdings hatte man ringsum dünne Spalten in die Wände eingearbeitet, damit der Gezeitenstrom durchfließen konnte, statt draußen zu verwirbeln, was sich auf die Korallenhügel ausgewirkt hätte.
Agat’ols Blick folgte einem Schatten, der die Spalten verdunkelte. Etwas näherte sich der Tür, und nicht eine Fuge wurde dabei wieder hell. Am Eingang siedelten Leuchtmikroben im Mauerwerk. Kleine Kissen, die gerade so viel Licht abgaben, dass es für einen Abglanz reichte auf dem Papageienschnabel, der leise klackend mitsamt seinem Besitzer an den Türrahmen stieß.
Ein Tiefseekrake!
Er war ungeheuer groß, konnte wahrscheinlich bequem das ganze Gebäude umspannen. Man sollte meinen, dass ein derartiges Monstrum an der schmalen Tür scheitern würde, aber Agat’ol wusste es besser. Kraken waren knochenlos, weich wie Gummi, und es hieß nicht umsonst: Wo der Schnabel durchpasst, da passt auch der Krake durch!
Tentakel drängten herein, entrollten sich, tasteten über den Boden. Ihnen folgte der Kopf. Einen Moment blieb er stecken, sah aus wie ein eingeschnürter Ballon. Dann schoss er herein. Die Wasserverdrängung hob Agat’ol schaukelnd hoch. Als er wieder herunter sank, landete der Mar’osianer auf einer schwammigen, lebenden Unterlage.
»Da bist du ja, Korr’ak!«, sagte er.
***
Es war gegen sieben Uhr morgens oben auf den Pazifikwellen, als Matt in seinem Haus am Meeresgrund erwachte. Leise, um Aruula nicht zu stören, rollte er sich von der Schlafmatte. Aus dem Nebenzimmer drang das Schnarchen des Sehers herein, tief und gurgelnd, von Schmatzgeräuschen unterbrochen.
Grinsend trat Matt ans Fenster. Die Scheibe verlor gerade ihr milchiges Aussehen, offenbar als Wechselwirkung mit der zunehmenden Helligkeit draußen. Matt strich mit den Fingerspitzen über das transparent werdende Material.
»Die hydritische Version eines Vorhangs«, murmelte er anerkennend.
»Nicht schlecht, was?«, scholl es von der Zimmertür her. Quart’ol stand im Rahmen, bepackt mit Geschenken. Er nickte dem Freund zu. »Na, gut geschlafen?«
»Wie ein Stein!«
»Aber… Steine schlafen nicht!« Der Hydrit stutzte, dann grinste er breit. »Ah – eine Redensart.«
Matt wies auf die Muschelkörbe in Quart’ols Armen. »Willst du hier einziehen?«
Eine Abfolge schneller Klacklaute ertönte. Matt kannte das: Sein hydritischer Gefährte versuchte Zeit zu schinden, um die für ihn verwirrende Frage zu analysieren. In Quart’ols Kreisen wurde selten gescherzt, und obwohl der einen Meter sechzig kleine Wissenschaftler schon viel über die Menschheit erfahren hatte, stand er ihrem Humor doch immer wieder etwas ratlos gegenüber.
»Das war ein Witz!«, klärte Matt ihn auf.
»Ja, natürlich. Was sonst.« Quart’ol kam herein und stellte die Körbe ab. »Ich habe euch Frühstück mitgebracht. Und Tauchanzüge, frisch in eurer Größe gezüchtet und erheblich bequemer zu tragen als die aus der Transportqualle. Oh – guten Morgen, Aruula!«
»Hmpf!«, machte die Barbarin, müde blinzelnd. Quart’ol sah schüchtern weg, als sich die schöne Frau dehnte und streckte. Gähnend stand sie auf, trat zu Matt und küsste ihn auf die Wange. »Ich hab geschlafen wie ein Holzklotz!«
Quart’ol runzelte die Stirn. »Du meinst: wie ein Stein.«
Aruula wandte sich ihm zu. »Nein, wenn ich Holzklotz sage, meine ich auch Holzklotz. Wie kommst du denn auf Stein ?«
Der Hydrit breitete die Arme aus. »Ich geb’s auf! Fangt schon mal mit dem Frühstück an, ich wecke inzwischen euren Gefährten.«
Kopfschüttelnd tappte er davon, während sich Aruula an Matt wandte und erstaunt flüsterte: »Was ist mit ihm? Hat er schlecht geträumt?«
Das hatte Quart’ol nicht, und so saßen die Vier wenig später einträchtig beieinander, um zu frühstücken – Krabben auf
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