2273 - Der gefallene Schutzherr
die aufgerissenen Augen namenloses Entsetzen, das sie im Moment ihres Todes erfasst haben musste. Kharzani schauderte bei dem Gedanken an die Waffen, welche die Fremden gegen die Diskusschiffe eingesetzt haben mussten. Eine Strahlung, die stählerne Wände wie nichts durchdrang und auf alles wirkte, was lebte. Diese Bilder waren nicht neu.
Dennoch ging er weiter, bis er die Zentrale des Wracks erreicht hatte. Ihm bot sich das gleiche Bild - überall nur Tote in meist noch nicht einmal geschlossenen Raumanzügen. Sie hatten offenbar keine Zeit mehr gehabt, sie zu schließen. Ob das etwas genützt hätte, war zweifelhaft.
Eine weitere Hoffnung starb. Der Schutzherr hatte sich schon halb umgewandt, um zurück zum Porter zu gehen, als er aus den Augenwinkeln die Bewegung wahrnahm.
Ein Sessel vor einem Kontrollpult schwenkte ganz langsam zu ihm herum. Bisher hatte er von ihm nur den Rücken gesehen.
Jetzt starrte er in die Augen eines Echsenwesens, das sich mit zitternden Händen an die Lehnen klammerte. In ihnen war noch ein winziger, schwacher Funke von Leben.
Mit wenigen Schritten war der Schutzherr bei dem Fremden. Er legte die dünnen Knochenfinger seiner rechten Hand vorsichtig auf die Schulter des Wesens. „Du brauchst keine Angst zu haben", sagte er in der Verkehrssprache der Galaxis. „Kannst du mich verstehen?"
Er konnte es nicht. Kharzani sah es an seinem langsam erlöschenden Blick, der Verständnislosigkeit und namenloses Grauen verriet.
Der Fremde, vielleicht der Kommandant des Diskus, bewegte die verhornten Lippen, aber er brachte keinen Laut mehr hervor. Kharzanis Hoffnung, von ihm etwas zu erfahren, starb mit ihm.
Als die Augen des Fremden starr wurden, sah Kharzani sich erneut um. Vielleicht gab es Speicher, in denen sich Aufzeichnungen über den Angriff finden ließen. Er glaubte eigentlich nicht daran. Es war mehr Trotz, der ihn festhielt - einen Augenblick z\i lange.
Tagg Kharzani unterdrückte einen Aufschrei, als er sah, wie sich etwas aus dem Anzugkragen des fremden Wesens schob und blitzschnell auf seine Hand überfloss, die noch auf seiner Schulter lag. Blitzschnell zog er sie zurück, doch zu spät. Noch bevor er es überhaupt richtig erkennen konnte, war etwas unter den Ärmel seiner Montur geschlüpft. Ein feines Gespinst aus tausend hauchdünnen Fäden, ein fast undurchsichtiges Netz.
Und genauso schnell, wie es von dem Toten zu ihm herübergeglitten war, breitete es sich unter der Kleidung über seinen Körper aus. Er konnte nichts dagegen tun. Doch die Panik, die ihn im ersten Moment überfiel, legte sich schnell.
Er fühlte es wie eine zweite Haut, warm und weich. Und warm glitt es auch in seinen Geist.
Das war der Moment, in dem er Enkrine zum ersten Mal spürte.
Zehn Jahre später konnte er sich sein Leben nicht mehr ohne den Symbionten vorstellen.
Keiner der anderen wusste etwas davon. Er legte Enkrine nur dann an, wenn er allein war und wenn er schlief. Wenn er ihn nicht trug, heftete sich der Symbiont gern an helle Fenster oder in dunkle Ecken, hing an der Decke oder spannte sich zwischen Schränken, immer als feines, kaum sichtbares Netz.
Von der ersten Minute an konnte er mit ihm kommunizieren, gedanklich, ganz ohne Worte.
Bald waren ihm seine Einflüsterungen vertraut. Wenn er ihn nicht trug, vermisste er sie.
Enkrine beobachtete akribisch alles, was er tat. Er lobte ihn für jede gute Tat, zögerte allerdings auch nicht, ihn für jene Gedanken zu tadeln, die er heimlich hegte. Wenn er sie vor allen anderen verbergen konnte - vor Enkrine nicht.
Und sie kamen ihm immer öfter, je strahlender Gimgons Stern leuchtete und wenn der Neid an ihm zu fressen begann. Gimgon und Gon-Orbhon waren mehr denn je die leuchtenden Helden, während er, Tagg Kharzani, tun konnte, was er wollte im unentwegten Ringen um Frieden und für das Leben. Er stand immer im Schatten. Auch als es ihm gelungen war, das Rätsel der Invasoren aus einer anderen Galaxis zu lösen und diese Gefahr für Ammandul zu bannen, hatte Gimgon ihm durch einen erfolgreichen Kreuzzug allen Wind aus den Segeln genommen. Tagg Kharzani hasste ihn nicht - noch nicht -, denn Gimgon war es gewesen, der ihn vor über viertausend Jahren als neuen Schutzherrn vorgeschlagen hatte. Lange Zeit war er ihm dankbar gewesen, aber der Stachel der Eifersucht bohrte sich immer tiefer in ihn hinein.
Er würde nie aus seinem und Gon-Orbhons Schatten treten können. An ihrer Seite war und blieb er ein Abklatsch, was er auch tat
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