2356 - Schmerzruf
Er blickte sich um und spekulierte: „Bei den Ausmaßen dieses Wasserreservoirs und dem Druck, den die Fluten ausübten, ist es ein Wunder, dass der Stollen nicht schon früher ein- gestürzt ist. Erst unsere heutigen Arbeiten haben ihn endgültig instabil werden lassen."
„Du kennst die Ausmaße nicht", widersprach Kirmizz.
Das leise, humorlose Kichern antwortete ihm. „Meine Augen sind besser als deine, Naigon. Ich sehe die Höhlenwände. Es sind sicher zwanzig Meter in jede Richtung."
Kirmizz stellte die Anrede nicht richtig - es war nicht der geeignete Moment dafür.
Vielleicht war es ohnehin am besten, alle anderen über seine wahre Identität im Unklaren zu lassen. Viel hätte er ohnehin nicht zu berichten.
Nur einen Namen. „Gibt es einen Ausgang? Einen Gang, der von der Höhle abzweigt?"
„Soweit ich erkennen kann, nicht." Ingittz drehte suchend den Kopf; der Strahl der Helmlampe huschte durch die Höhle.
Langsam gewöhnten sich Kirmizz' Augen an die herrschenden Lichtverhältnisse. Er konnte jetzt die vor Feuchtigkeit glänzenden Wände erahnen. Sein Blick ging nach oben. Die Höhe der Höhle entsprach etwa seiner doppelten Körpergröße. „Lass uns das genauer untersuchen."
Sie entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen - ein fataler Fehler, wie Ingittz Zauls entsetzter Schrei bewies.
Kirmizz wirbelte herum.
Der Kamerad stürzte platschend auf eine Wasserfläche. Wirbelnde Bewegung überall. Ingittz schlug um sich, doch etwas schob sich vor und über ihn. Ein gewaltiger dunkler Leib, groß wie ein Koloss.
Der Stolze Herr rannte los, rutschte auf glitschigem Gestein aus und verhinderte nur mit Mühe einen Sturz.
Der Kampf tobte in unverminderter Heftigkeit. Der Incas schlug seinen Fersendorn in den Leib des Gegners. Ein hoher, quietschender Schmerzenslaut ertönte. Ingittz geriet komplett unter die Wasseroberfläche.
Das wahre Ausmaß des Geschehens erkannte Kirmizz erst, als er selbst beinahe in den See gestürzt wäre. Denn was Ingittz offenbar für eine weitere der zahlreichen großen Pfützen gehalten hatte, war genau das - ein See, tief genug, einem riesigen Raubfisch Lebensraum zu bieten.
Das Tier hatte sich dorthin gerettet. An jedem anderen Ort der Höhle wäre es verendet; in dem See fand es die notwendigen Lebensbedingungen. Als Ingittz in sein Rückzugsgebiet gestürzt war, hatte es sofort angegriffen.
Ein zähnestarrendes Maul schnappte unter blind glotzenden Augen. Die schief aus dem gewaltigen Kiefer ragenden Hauer standen nur vereinzelt, aber sie waren fingerdick und spitz zulaufend - trafen sie, war es um die Beute geschehen.
Das Biest mochte zwei Meter lang sein.
Kirmizz wartete eiskalt einen geeigneten Moment ab, sprang auf den Rücken des Tieres und schlug sofort zu. Die Fäuste rammten gleichzeitig gegen beide Kopfseiten und dellten die schleimig weiche Körpersubstanz tief ein.
Sofort glitt Kirmizz tiefer, umklammerte den Halsbereich der Bestie und drückte zu.
Der Stolze Herr warf sich mit ganzem Körpergewicht zur Seite und zerrte den Kopf des Raubfischs ruckartig mit sich.
Es knackte. Der ersterbende Leib zuckte mehrfach wie eine gewaltige Peitsche.
Dann lag er still. Von der Bestie drohte keine Gefahr mehr.
Ingittz Zaul japste, während er ans Ufer taumelte. „Danke, mein Freund." .„Wir sollten vorsichtiger sein." Kirmizz wies um sich. „Wer weiß, wie viele Überraschungen noch auf uns warten."
Diese Vorsicht erwies sich als unbegründet.
Nach dem Einbruch waren keine weiteren größeren Seen zurückgeblieben.
Ingittz drückte -Wasser aus seiner Oberkleidung. „Wo kam das Biest her? Es gibt sonst nirgends einen Ausgang aus dieser Höhle. Also muss ein unterirdischer Zugang in der Tiefe des Sees existieren."
„Das nützt uns nichts. Wir können ihn unter Wasser nicht benutzen." Kirmizz kapitulierte. „Wenigstens sind wir vorübergehend in Sicherheit. Wir werden warten, bis man uns befreit."
„Karaus Msirako wird keinen Finger für unsere Rettung rühren. Der finanzielle Aufwand rechnet sich nicht. Man wird uns auf die Verlustliste setzen und vergessen."
„Das wird man nicht", widersprach der Stolze Herr, als er spürte, dass seine spezielle Gabe wieder ausbrach.
Ihm war, als spalte sich sein Geist und wandere durch die Höhle, den Stollen, die Felsmassen, die den Ausgang verschütteten ... weiter, auf eine Gruppe Sklaven zu, spalte sich weiter auf, dringe in die Köpfe der Incassis, verlasse in ihnen die Höhle, gelange an Tageslicht,
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