239 - An der Pforte des Hades
Worte nachzudenken. Denn plötzlich und unerwartet betrat der Einsiedler die Höhle. Er war bis unter die Nase in Fell gehüllt und eine tote Robbe hing über seiner Schulter. Seinen Sebezaan hatte er nicht dabei. Vermutlich setzte das Tier die Jagd ohne ihn fort.
Die Situation war eindeutig. Matt stand in der verbotenen Höhle, das Notizbuch in der Hand. Er atmete tief durch. Jetzt galt es Farbe zu bekennen.
»Es tut mir leid. Ich war neugierig –«, begann er, doch Chacho unterbrach ihn.
»Wenn deine Frau nicht wäre, würde ich euch in den Eissturm jagen«, fuhr er Matt an. Er ließ die Robbe zu Boden fallen und begann sich aus seinen Fellen zu schälen. »Du lässt mich jetzt besser allein!«
Doch so klein wollte Matt nicht beigeben. »Was wurde aus den Leuten, denen diese Dinge gehören?«, wollte er wissen.
Chacho antwortete nicht. Er setzte sich auf sein Lager und begann die Fellstreifen von seinen Stiefeln zu lösen.
Matt ließ nicht locker. »Was sind das für Aufzeichnungen?« Er klappte das Buch auf, das er noch immer in der Hand hielt. »Das sind hydritische Schriftzeichen! Was hat es damit auf sich?«
Unerwartet reagierte der Einsiedler. Er hielt in seinem Tun inne und sah Matt überrascht an. »Du kennst diese Sprache?«, fragte er aufgeregt. »Weißt du, was die Zeichen bedeuten?«
***
21. Dezember 2519
Bizarre Eisformationen ragten aus der Schneelandschaft rund um die Risswelt. Sie leuchteten orange im matten Licht der Sonne, die heute nicht untergehen würde. Dreiunddreißig Pachachaos hatten sich am Wak’a, ihrem Kultplatz versammelt. Er lag außerhalb ihrer geräumigen Höhlen, die sie vor fünf Jahren in den Klippen der Risswelt bezogen hatten.
Sie waren gekommen, um die Wintersonnenwende zu begehen. Aber auch um die Mamapacha zu bitten, dem unheimlichen Verschwinden ihrer Leute ein Ende zu bereiten. Seit fünf Monden waren ein Dutzend ihrer Brüder und Schwestern in den Höhlen spurlos verschollen. Unter ihnen drei Kinder.
Nacheinander legten die Eisbarbaren kleine Habseligkeiten auf den walförmigen Stein. Sie sollten der Ausgleich für ihre Wünsche an die Göttin sein. Schmuck und Geschirr, glitzernde Steine und Robbenknochen. Lityi opferte einen Ring, den ihr Chacho einst geschenkt hatte. Daneben legte sie eines der Werkzeuge ihres Mannes. Er selbst konnte nicht an der Zeremonie teilnehmen.
Vor zwei Tagen war er mit Sable aufgebrochen, um in Georgshütte Werkzeuge, Stablampen und neues Papier für seine Aufzeichnungen zu besorgen. Er wollte die Höhlen genauer inspizieren. Wie alle anderen, so hoffte auch er immer noch, die Verschwundenen zu finden. Wenn sie auch längst tot waren, so mussten ihre Gebeine verbrannt und dem Eis übergeben werden, damit ihre Seelen wiedergeboren werden konnten.
Lityi zog sich die Kapuze ihres Fellmantels tiefer ins Gesicht. Wie immer sorgte sie sich um ihren Mann, wenn er sich auf eine längere Reise begab. Neben ihr legte die kleine Rose eine geschnitzte Puppe auf den Stein der Göttin. Nachdenklich blickte sie ihre Mutter an. »Wird sie damit spielen?«
Lityi kam nicht mehr dazu, ihrer Tochter zu antworten. Unheimliche Schreie zerrissen die Luft. Es klang wie der hundertfache Todesschrei von sterbenden Robben. Der Boden am Wak’a bebte. Schnee stob aus den Rissen und Spalten der Eisfelder. Es barst und krachte, es scharrte und schnaufte.
Von allen Seiten drang der ohrenbetäubende Lärm auf die ängstlichen Pachachaos ein. Einige warfen sich heulend zu Boden. Andere klammerten sich wimmernd an den Stein der Göttin. Sie glaubten, die Welt ginge unter.
Wieder andere standen wie gelähmt am Rande des Kultplatzes. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie in die Wolken aus Schnee und Eis. Unter ihnen Lityi, die ihre Tochter von dem Walstein fortgerissen hatte. Sollte sie flüchten oder abwarten? War es ein Beben oder lösten sich Eisflächen voneinander?
Ihr stockte der Atem, als sie erkannte, dass keine ihrer Vermutungen zutraf. Hinter den Schneeschwaden wälzten sich die Umrisse großer Kreaturen heran. Das Eis ächzte und knirschte unter ihren stämmigen schuppigen Beinen. Sie hatten den Körper einer Echse, den Schädel eines mutierten Fisches, und aus ihrem geöffneten Rachen ragten messerlange Zähne. Von ihren Schwänzen peitschte ein Ring aus Tentakeln über den Boden und hinterließ tiefe Rillen.
»Flieht!«, schrie Lityi und rannte los. In ihrem Rücken hörte sie das Stampfen der Bestien. Ihre unheimlichen Schreie
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