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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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fühlen als du, und zweitens die, daß du anders,
vollkommener, zarter, höher und wertvoller ausgestattet seist als
andere Menschen. Glaube mir: Wenn ich dich schlachte, so schmeckt dein
Fleisch auch nicht besser als anderes Fleisch, und deine Knochen
ergeben keine delikatere Brühe als andere Knochen. Dein Haupt- und
Barthaar ist nicht einmal so nützlich, um auch nur als Pelz verwendet
zu werden, und wem es einfiele, aus deiner Haut einen Schuh, einen
Stiefel, einen Sattel oder gar eine Lederhose zu machen, der würde gar
bald erfahren, daß sie von jedem Kalbs- oder Ochsenfell übertroffen
wird!“
    „Effendi! Wagst du da nicht zuviel?“ fiel er da ein.
    „Ich wage gar nichts!“ antwortete ich. „Wie kann es ein Wagnis sein,
daß ich dir die Augen öffne? Sobald du sehend wirst, kannst du nicht
zürnen, sondern mir nur dankbar sein! Du hieltest dich für eine ‚höhere
Natur‘, und ich habe dir bewiesen, daß du körperlich aus genau
denselben Stoffen bestehst, wie jeder andere Mensch und sogar wie jene
Schafe, für deren ‚Herr‘ und ‚Mir‘ und ‚Gebieter‘ du dich hältst. Bist
du wirklich mit einem Vorzug ausgestattet, so kann er nur auf
seelischem Gebiet zu suchen sein. Nun bitte ich dich, forsche nach! Auf
welchem geistigen Gebiet hast du dich hervorgetan? Ich meine, so
hervorgetan, daß du verdienst, ein geistiger ‚Mir‘, ein geistiger
‚Herrscher‘, ein ‚Fürst des Geistes‘ genannt zu werden?“
    Ich hielt inne, um zu hören, was er sagen werde. Er blieb aber still. Da fuhr ich fort:
    „Also auf keinem Gebiet! Du warst kein Gelehrter, kein Dichter, kein
Künstler, kein berühmter Theologe, kein Entdecker, kein Erfinder,
kein –“
    „Aber ich war mehr, als das alles“, fiel er mir da in die Rede. „Ich war – Fürst!“
    „Ja, du warst Fürst; das ist richtig! Aber was für ein Fürst? Womit
hast du verdient, ein Fürst zu sein? Warst du es durch dich selbst?
Oder wurde dir dieser Titel genauso übererbt, wie die Fehler, die du
vorhin eingestandest, deine Strenge, deine kalte Berechnung, deine
Grausamkeit? Was hast du als Fürst getan? Hast du dich vor anderen
Fürsten oder auch nur vor anderen gewöhnlichen Menschen durch
segensreiche, beglückende Taten ausgezeichnet? Nenne mir diese Taten!
Welche Gesetze hast du gegeben, um das Wohl deines Volkes zu heben? Wo
sind die Wege, die Straßen, die Schulen, die Hospitäler, die du
bautest? Welche Wüstenfläche hast du gezwungen, sich in Acker- und
Weideland zu verwandeln? In welcher Weise hast du für die Armen deines
Volkes gesorgt? Wo stehen deine Kornkammern, deine Vorratshäuser, die
du öffnen kannst, sobald es Mißernten gibt und die Hungersnot durch
eure Gassen schleicht? Ich weiß, daß die früheren Herrscher von
Ardistan gewaltige Bauwerke errichteten, in denen die Saaten und
Früchte des Landes in unmeßbaren Mengen aufgespeichert wurden. Wann
hast du Ähnliches getan?“
    Hier machte ich eine Pause. Er schwieg auch jetzt. Er saß
zusammengedrückt, die Hände über das Knie gefaltet, und hielt den Kopf
gesenkt. Ich sah, daß seine Zeit gekommen sei, gehämmert und
geschmiedet zu werden, daß sich die Schlacken verlieren möchten, und
fuhr also fort:
    „Und was hast du auf seelischem Gebiet getan, um behaupten zu
dürfen, du seist ein besserer, ein edlerer, ein höherer Mensch als
andere? Hast du überhaupt einmal auch nur den Versuch gemacht, hier
etwas Gutes oder gar Ungewöhnliches zu leisten? Wie stand und wie steht
es zunächst um deine eigene Seele? Wie wird sie aussehen, wenn du sie
dem, der sie dir gab, einst wiederbringst? Und sodann die Seele deiner
Frau und deiner Kinder? Wo war der Sonnenstrahl, ohne den sowohl Weib
als Kind verkümmern und verschmachten? Ferner die Seele deiner
Umgebung, deines Hofes, deiner Residenz? Ich sah dich, als ich zu dir
kam, in schwere, dichte, strotzende und protzende Gewänder eingehüllt,
so tief, so tief, daß von dir nichts, gar nichts zu sehen war. Es gab
nur Prunkgewänder, nur Zeremonie, nur Förmlichkeit, nur Putz und
Mummenschanz, aber keinen Inhalt, kein Leben und Weben im Innern, in
der Tiefe! Und wo es etwas gab, da war es Furcht oder Angst, auch Lüge
und Verstellung Empörung und Verrat! Nun endlich gar die Seele deines
Volkes! Was tatest du für sie? Wie hast du sie dir gewonnen? Wie hast
du sie an dich gezogen, damit sie dich liebe, dich ehre, dir ihr
Vertrauen schenke, sich mit dir freue, mit dir leide und treu und
willig zu dir stehe in jeder Schicksalslage,

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