250 - Rückkehr nach Euree
anlegen musste. »Ich muss auf absolute Disziplin bestehen, Major! Die Zeiten sind zu ernst für Gefühlsduseleien, wie Sie sie sich gestatten!«
Der Einhundertsiebenjährige ließ den weit Jüngeren los. Dubliner schüttelte sich, eilte mit hochgezogenen Schultern zum Schlitten seiner Geliebten, kletterte hinauf und setzte sich neben sie. Gabriel taxierte beide mit finsterem Blick. Der Frau selbst ein Wort des Tadels zu sagen, konnte er sich nicht erlauben. Immerhin hatte sie ihn und seine letzten sieben Gefährten gerettet; und immerhin hatte sie während des tagelangen Schneesturms, der dem mörderischen Angriff auf der Themse gefolgt war, ihn und seine Leute beherbergt und verpflegt.
»Gestern Abend haben wir den Rand der Ruinen Landáns erreicht«, sagte die Frau mit ihrer hellen schönen Stimme; nicht einmal der Prime konnte sich deren zauberhaftem Klang ganz verschließen. »Heute führe ich euch ins Zentrum der Ruinenstadt hinein.« Sie schnalzte mit der Zunge, die Taratzen zogen ihren Schlitten an.
Endlich begab sich auch Sir Leonard zu einem der Schlitten und kletterte hinauf. Eve, Sarah und Valery setzten sich zu ihm. »Gegen Hormone ist kein Kraut gewachsen«, sagte Eve und schnitt eine höchst amüsierte Miene. Auch die anderen Schlitten fuhren an.
Gabriel antwortete der Psychiaterin nicht. Er wusste ja selbst, welche Zerstörungskraft Leidenschaften wie die so genannte Liebe entfesseln konnten. Gerade deswegen machte er sich ja ernsthafte Sorgen um den Enkel seines Vorgängers. James Dubliner jr. war immer ein verantwortungsbewusster Offizier gewesen, jetzt schien er zum willenlosen Kindskopf mutiert zu sein. Wie konnte so etwas geschehen? Sir Leonard hatte keine Erklärung dafür.
Auf sein Schwert gestützt, beäugte er misstrauisch die von Schnee und Eis schweren Eiben und Fichten, an denen der Schlitten vorüber glitt. Keine Öffnung in den vereisten Ruinenwänden, die seiner Aufmerksamkeit entging. Und immer wieder kehrten seinen Gedanken zu Dubliner jr. zurück.
Konnte ein Mensch sich tatsächlich in so kurzer Zeit derart verändern? Sicher - Hormone pflegten häufig eine nicht zu unterschätzende Wirkung zu entfalten, doch konnten sie tatsächlich aus einem an Härte und Disziplin gewohnten Soldaten einen sexbesessenen Weiberhelden machen?
Sir Leonard dachte an Fahkas Worte: Vielleicht hat sie ihn auch verhext… Tiefer Widerwille erfüllte ihn; Sir Leonard hasste es, wenn jemand zu irrationalen Vermutungen Zuflucht nahm. Doch im selben Moment erinnerte er sich an das, was er auf dem vereisten und verschneiten Strom mit eigenen Augen hatte ansehen müssen: An einen wilden, ausgehungerten Mammuteber, dessen Fell sich sträubte, als würde er sich vor der Frau fürchten, die vor ihm stand. Und war er nicht buchstäblich vor ihr eingeknickt?
»Wir sind gleich da.« Eves Stimme riss den Prime aus seinen Grübeleien. »Ich sehe schon die Turmspitze der Kathedrale.«
Sir Leonards Blick folgte dem ausgestreckten Arm der Psychiaterin. Tatsächlich - die Westminster Cathedral war noch höchstens zwei Kilometer entfernt. Davor wölbte sich die mächtige Titanglaskuppel über dem Westufer der Themse. Eine meterdicke Schneedecke lastete auf ihr. Nach allem, was Sir Leonard Gabriel über die Konstruktion wusste, würde sie die tonnenschwere Last ohne Schäden überstehen.
Wenig später rückte die Westminster Bridge in ihr Blickfeld. Der Schlitten mit Traysi und Dubliner hielt an, die anderen Schlitten stoppten neben ihm. »Krieger!« Traysi deutete hinüber zum anderen Ufer. »Sie sind bewaffnet!«
Sir Leonard, Cinderella Loomer und Dubliner setzten ihre Feldstecher, die so genannten Binokulare, an die Augen. »Socks(Schmähname für die Barbaren, die sich selbst »Lords« nennen)«, sagte die Loomer.
»Ich zähle mindestens vier Dutzend«, bestätigte Dubliner.
»Es sind mehr«, sagte Sir Leonard. »Sie besetzen alle strategisch wichtigen Posten rund um die Kuppel.«
»Sie belagern die Parlamentsgebäude«, murmelte Dubliner.
»Die Parlamentsgebäude?« Eve Neuf-Deville stieß ein bitteres Lachen aus. »Nennen wir das Kind doch beim Namen: Sie belagern den Bunker der Community London!«
Sir Ibrahim Fahka ließ sich Loomers Feldstecher geben und spähte zur Kuppel hinüber. »Eve hat recht: Sie belagern den Bunkereingang! Innerhalb der Kuppel zähle ich noch einmal mindestens zwanzig Socks! Alle schwer bewaffnet!«
»Weg hier!« Traysi hatte es auf einmal sehr eilig. Sie pfiff, gurrte,
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