257 - Die Spur der Schatten
die Arme laufen, gefällt mir. Das ist nicht recht, schon klar, mein Kind - doch wer weiß, was er und seine Knechte dir und mir angetan hätten, wenn Pieroo sich nicht so mutig vor uns gestellt hätte?
Mein liebevoller, mein starker, mein treuer Pieroo…
Es war gut, Ann, dass du dich in der Sakristei versteckt gehalten hast während des Kampfes. Aber du hättest ihn sehen sollen, wie er die drei wilden Männer niedergerungen hat. Den ersten hat er mit einem einzigen Faustschlag zu Boden gestreckt. Dem zweiten schlug er mit der stumpfen Seite seiner Axt auf den Schädel, als dieser ihn von hinten in den Würgegriff nahm. Und dem dritten, der ihn in diesem Moment von vorn angreifen wollte, dem trat er mit solcher Wucht in die Rippen, das er sich noch Minuten später voller Schmerzen vor dem Altar wälzte…
Oh! Was tue ich hier? Beschreibe meinem Töchterchen die gröbsten Gewaltszenen! Doch was sollen die Skrupel - wenn du das hier lesen kannst, wirst du alt genug sein, um es richtig einzuordnen. Und soll ich ganz ehrlich sein? Ich stamme aus einem bürgerlichen Elternhaus, meine Mutter las mir Gedichte von Walt Whitman und Leonard Cohen vor, und Sonntags saßen wir gemeinsam in der lutherischen Kirche - und dennoch hat mir Pieroos Kampf mächtig imponiert. Was für ein starker, mutiger Mann!
Pieroo, der Hordenchef aus dem postapokalyptischen Euree, und Fletscher, der Major aus der Community Leeds - lies aufmerksam, was ich jetzt auf dieses Papier schreiben werde, Ann, und merke es dir gut, mein Kind: Einen Barbaren erkennt man nicht unbedingt an seinem Äußeren und seiner Herkunft. Ein Barbar unterscheidet sich von einem Menschen mit einem guten, gebildeten Herzen einzig und allein durch seine Taten. Mancher, der wie ein Barbar aussieht, ist in Wahrheit ein edler Mensch…
***
Ende Oktober 2521
Paps starb fünf Tage nach dem Kampf in der Kirchenruine. Der Axthieb des haarigen Barbaren hatte ihm die Schädeldecke zertrümmert. In der Ruine, in die Fletscher sich nach dem nächtlichen Kampf mit seinen Waldwilden zurückgezogen hatte, begruben Pieps und Pups ihren Gefährten unter einem großen Haufen Geröll. Ursprünglich wollten sie die Leiche nach der Sitte ihres Stammes verbrennen, doch das verbot Fletscher ihnen, und diesmal ließ er sich nicht umstimmen: Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass der Rauch ihr Versteck verriet.
Auch wenn er es vor sich selbst nicht zugab: Fletscher hatte Pieroo fürchten gelernt. Zugleich brannte der Durst nach Rache in seinen Eingeweiden. Und das Verlangen nach Pieroos schöner Freundin.
Den Rachedurst hatte er mit seinen barbarischen Knechten gemeinsam - sie hassten Pieroo. Nach den Gesetzen ihres Stammes waren sie zur Blutrache verpflichtet. Das erklärten sie ihm in ungewohnt harschem Tonfall.
»Was ist los mit euch?« Fletscher spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Wenn ihr ein Problem habt, dann raus mit der Sprache!« Ihre Mienen waren verschlossener seit dem Kampf, in ihren Blicken hatte sich etwas Lauerndes eingenistet. Bis jetzt hatte er sich diese Veränderung mit ihrer Wut über die schmachvolle Niederlage gegen Pieroo erklärt, doch nun kamen ihm Zweifel. Er packte sein LP-Gewehr und hob wie zufällig den Lauf ein wenig an. »Redet schon!«
»Nur geguckt hast du, als Schwarzpelzmann uns geschlagen«, sagte Pieps heiser und stockend. Seine Nase war ein faustgroßes Geschwür, blau und grün und blutverkrustet. Der Fausthieb Pieroos hatte sie mindestens dreimal gebrochen. »Nur geguckt…« Unsicher suchte Pieps den Blick seines Gefährten.
Pups richtete sich auf. »Warum uns nicht geholfen?« Der jüngste der Barbaren war Fletscher gegenüber von Anfang an mit dem größten Selbstbewusstsein aufgetreten. Jetzt drohten sich auch noch die letzten Reste seiner Unterwürfigkeit zu verflüchtigen. »Warum nicht deine Blitze geschleudert auf Schwarzpelzmann?« Er deutete auf das LP-Gewehr in Fletschers Händen.
Dem Major aus Leeds verschlug es ein paar Sekunden lang den Atem. Seine Augen wurden schmal. Wenn er jetzt nicht sehr gut bluffte, war er verloren. »Seid ihr so dumm, oder tut ihr nur so?« Er schielte zu seinem Tornister, in dessen Seitenfach ein Jagdmesser steckte. Dann richtete er den Gewehrlauf auf Pups. »Die Frau war doch eine Göttin, habt ihr Schwachköpfe das nicht gesehen? Was glaubt ihr denn, warum ich mitten in der Nacht zu ihr gegangen bin? Um sie anzubeten! Und der haarige Kerl war ein grausamer Hexer, der sie und ihr Kind gefangen
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