257 - Die Spur der Schatten
berichten. Sie machte nicht viele Worte. »Die Community London existiert nicht mehr, Mr. Fletscher«, sagte sie knapp. »Und ich würde mich nicht wundern, wenn auch die Community Leeds inzwischen untergegangen ist. Am Kratersee sind nämlich unzählige Nuklearbomben explodiert, und ein Elektromagnetischer Impuls hat die Bunkerelektronik lahm gelegt.« Sie blickte auf seine Waffen. »Dazu sämtliche EWATs und auch…«
»Verstehe!«, unterbrach Fletscher schroff. Wie ein Eissturm hatte das Entsetzen ihn angesprungen; sein Mund war trocken, ein Knoten schwoll in seinen Eingeweiden, doch er war noch geistesgegenwärtig genug, ihrer Miene die nächsten Worte abzulesen, die sie auszusprechen beabsichtigte. Mit Blicken gab er ihr zu verstehen, um keinen Preis zu erwähnen, dass auch seine Waffen unbrauchbar geworden waren. »Verstehe genau, was du sagen willst, Jenny, ganz genau…«
Ihr aufmerksamer Blick wanderte ein paar Mal zwischen ihm, seiner Waffe und den verstörten Gesichtern der drei Barbaren hin und her. Dann erst nickte sie. Sie hatte verstanden, und sogar ihr behaarter Freund schien zu begreifen, was für ein Spiel er spielte. Die Augen des Kerls waren hellwach. »Schmeckt's auch?«, fragte er. Die Wilden und Fletscher bestätigten wortreich.
Die schöne Frau berichtete weiter.
Nicht viel allerdings: Die örtlichen Barbaren hätten die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und die Bunkerstadt überfallen. Sie, das Kind und Pieroo waren geflohen und wollten jetzt an die Westküste.
Das war's schon, leider. Vermutlich war sie von Natur aus ein wenig scheu, und vermutlich machte sie die unerwartete Gegenwart eines stattlichen und gebildeten Mannes wie Fletscher ein wenig unsicher. So jedenfalls erklärte sich der Major aus Leeds ihr Verhalten.
Die schlechten Nachrichten aus London wühlten ihn auf, die Gegenwart der schönen Frau erregte ihn zusätzlich. Er merkte nicht, dass sie schlafen gehen wollte, und ihm fehlte jedes Gespür dafür, dass sie seine Annäherungsversuche als aufdringlich empfand. Er erzählte munter drauf los: von seiner militärischen Ausbildung in Leeds, von seinen Kampfeinsätzen und Auszeichnungen; er gab Witze zum Besten, über die nur er lachte. Irgendwann gähnte das Mädchen laut und lange, und die Blonde nahm sie auf den Arm und sagte: »Ich muss jetzt meiner Tochter eine Gutenacht-Geschichte erzählen, Mr. Fletscher. Schlafen Sie gut!«
»Träum was Schönes, Jenny«, rief er ihr nach, als sie das Kind hinter dem von Schutt bedecktem Chorgestühl durch eine Tür trug. »Und ich weiß auch schon, was«, fügte er leiser und grinsend hinzu. Der Barbar namens Pieroo stand die ganze Zeit am Steintisch mit dem Feuer. Fletscher merkte nicht, dass der struppige Bursche ihn aufmerksam beobachtete.
Gut gelaunt wickelte er sich in seine Decken und schickte auch seine barbarischen Knechte schlafen. Während das Feuer auf dem Steintisch herunterbrannte, lag er wach und dachte immer nur an die Frau. Die Leidenschaft brannte in seinen Lenden, mit Haut und Haaren hatte er sich in diese Jenny verliebt. So etwas war ihm lange nicht passiert.
Bald erfüllte das Schnarchen der anderen Männer die Kirchenruine. Pieroo hatte sich unter dem Steintisch auf einem Fell ausgestreckt. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus seiner gleichmäßigen Atemzüge. Das heruntergebrannte Feuer glühte noch.
Fletscher lag wach da. Seine Gedanken wanderten unentwegt in den Chorraum und den Raum hinter der Tür, durch die er die Frau aus London hatte verschwinden sehen. Gar nicht weit entfernt von ihm lag sie vermutlich ebenfalls wach und dachte ebenfalls an ihn. An was denn sonst? Er stellte sich ihren Mund vor, ihren Hals, ihren Busen, ihre Schenkel; in seiner Phantasie schlüpfte er unter ihre Decke und zog sie aus.
Irgendwann setzte er sich auf und blickte an der Glut und dem unter ihr schlafenden Pieroo vorbei in den Chorraum. Im Halbdunkeln dort glaubte er die Umrisse der Tür zu erkennen.
Warum begnügte er sich eigentlich mit der Phantasie? Warum ging er nicht einfach hinüber und gestand ihr, dass auch er an sie dachte? Warum nahm er sich nicht einfach, was er wollte und was sie ihm insgeheim sowieso geben wollte?
Du bist ein Mann, Robin , sagte er sich endlich, also steh auf und handle wie ein Mann.
Er nahm sein Gewehr und erhob sich. Sein Schwert ließ er liegen. Auf Zehenspitzen schlich er an seinen barbarischen Knechten und Pieroo vorbei, in den Raum hinter dem Steintisch und
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