257 - Die Spur der Schatten
durch die Tür, hinter der die blonde Jenny auf ihn wartete.
Sie schlief tief und fest. Oder stellte sie sich schlafend? Wie romantisch! Fletscher liebte es, wenn Frauen sich ein wenig zierten. Er kroch unter ihre Decken. »Hier bin ich«, flüsterte er. »Ich hab dich gesehen und wollte dich sofort.« Er zerrte am Reißverschluss ihres Oberteils. »So ging es dir doch auch, gib's ruhig zu…« Seine Hand betastete ihre Haut und ihre Brust; er wunderte sich kurz, weil sie keinen Serumsbeutel trug. »Was willst du mit diesem schmutzigen Burschen, wenn du mich kriegen kannst…?« Er zog die erst nach und nach Erwachende an sich und versuchte sie zu küssen.
Dann ging alles sehr schnell: Das Mädchen, das in ihrem rechten Arm schlief, begann zu weinen; die Frau namens Jenny fuhr hoch, stieß einen Schrei aus und schlug ihm ins Gesicht. Fackelschein erfüllte plötzlich den von Schutt halb ausgefüllten Raum, und Pieroo stand auf der Schwelle.
»Isch zähl jetzt langsam bis zehn«, sagte er ruhig. »Bei zehn habta euren Kram gepackt und seid verschwunden. Wenn nicht, gib's aufs Maul.«
»Wie kommst du mir vor?« Fluchend sprang Fletscher auf. »Du Halbtaratze willst mir sagen, was ich zu tun habe?« Er packte sein Gewehr und zielte auf ihn. »Du wagst es, mir zu drohen?« Er machte Anstalten, sich auf Pieroo zu stürzen, besann sich aber eines Besseren und stieß ihn lediglich zur Seite. Er wollte sein Schwert holen. An dem haarigen Barbaren vorbei drängte er sich fluchend aus der schmalen Tür.
Pieroo ließ seinen Fuß stehen, Fletscher stolperte und schlug lang hin. »Schuldigung«, nuschelte Pieroo.
»Dafür zahlst du!« Fletscher stemmte sich hoch. »Dafür wirst du bluten!« Heiße Wut brannte jeden vernünftigen Gedanken aus seinem Hirn. Seine Barbarenknechte standen zehn Schritte weiter neben dem Steintisch mit der Glut und schnitten ratlose Mienen. Fletscher dachte an sein nutzloses LP-Gewehr und seine Wut steigerte sich ins Unermessliche. »Packt den Scheißkerl!«, schrie er die Waldwilden an. »Schlagt ihn tot!«
Das war der zweite Fehler, den er in dieser Nacht beging.
***
7. Dezember 2525
Rulfan stand auf dem Bootssteg und sah aufs Meer hinaus. Das Segel des Katamarans entfernte sich langsam. Chira hockte hundert Schritte hinter ihm am Strand und jaulte. Leichter Schneefall setzte ein.
Dem Mann aus Salisbury war schwer ums Herz, eine unbestimmte Sorge nagte an ihm, eine unterschwellige Furcht. Nicht, dass er Maddrax und Aruula nicht zutraute, einen seetüchtigen Katamaran durch die Irische See bis zur Küste hinüber zu steuern - doch was würde sie dort drüben erwarten? Würden sie Ann und Jenny wirklich finden? Und würden sie jemals zurückkehren?
Rulfan verscheuchte die quälenden Fragen und schimpfte mit sich selbst wegen seines Pessimismus. Es gab keinen Grund, so schwarz zu sehen, nicht den geringsten. Er spähte solange auf die See hinaus, bis das Segel des Katamarans mit dem Himmel verschwamm. Dann drehte er sich um und stapfte über die nassen Holzplanken zurück an den Strand.
Chira lief ihm voraus zum Haus des Dorfvorstehers. Sie konnte es offenbar nicht erwarten, ins Hochland und in die Wälder in der Umgebung der Königsburg zurückzukehren. Rulfan dachte an die Welpen, die sie vermutlich in wenigen Monaten werfen würde. Ein schöner Gedanke; er tröstete ihn ein wenig über den Abschiedsschmerz und seine Sorgen hinweg. Ob ein weißer dabei sein würde? Weiß wie der Luparüde, mit dem er sie gesehen hatte? Weiß wie Wulf?
Im Stall hinter dem Haus des Dorfvorstehers verstaute er seine Sachen auf dem verbliebenen Schlitten und spannte die beiden Widder davor. Sein Horsey band er hinten an. Die Frau des Vorstehers hatte ihm ein halbes Brot, reichlich Trockenfisch und eine Flasche Wein als Proviant eingepackt. Der Geiz ihres Mannes schien ihr peinlich zu sein. Den anderen Schlitten samt Widder ließ Rulfan wie vereinbart zurück. Dann nahm er Abschied von der Familie des Vorstehers und fuhr hinauf ins Hügelland nach Südosten. Je höher er kam, desto heftiger wurde der Schneefall.
Eine Zeitlang kreisten seine Gedanken noch um Aruula und Maddrax. Ob der Freund sein Versprechen Aruula gegenüber halten würde? Es fiel ihm nicht leicht, sich den Mann aus der Vergangenheit sesshaft vorzustellen. Andererseits - hatte nicht auch er selbst die Entscheidung getroffen, sich ein für allemal niederzulassen? Prüfend lauschte er in sich hinein. Ja, es stimmte: Er war entschlossen, das
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