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2592 - Im Zeitspeer

2592 - Im Zeitspeer

Titel: 2592 - Im Zeitspeer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Lukas
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Strichmännchen. Die Figuren umtanzten einander wie Krepsh und Velrit oder reckten die Arme empor wie Urga Chremtaka, die Wirtin der KyBaracke, die sein Schicksal besiegelt hatte.
    An der Wattewand des Tunnels erschienen Schriften: Mene, mene tekel u-parsin ...
    Okay, das konnte er sich erklären. Sein Körper benötigte keinen Schlaf, durfte nicht schlafen, sein Gehirn jedoch wollte träumen. Logische Folge: Halluzinationen.
    Tiff beschloss, sie »Tagmahre« zu nennen. Danach ging es ihm kilometerweit wieder besser.
    *
    Die Techniken, die man ihn in der Upanishad-Schule auf dem Mount Everest gelehrt hatte und die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren, verschafften Tifflor eine gewisse Linderung.
    Char'imchar, »über das Fleisch hinaus«. Char'gonchar, »über den Geist hinaus«. Damit gingen philosophische Vervollkommnung und völlige Kontrolle des Egos einher.
    Sh'ant, »Kampf«. Hamosh, »Bewährung«.
    Talosh, »Meditation«. In dieser Stufe hatte Tiff gelernt, Belastungen durch Hitze, Kälte, Hunger, Durst oder Atemnot zu ertragen. Das war ihm schon unter manchen Extrembedingungen zupass gekommen.
    Im Jahrmillionentunnel allerdings war ihm weder heiß noch kalt. Er musste weder essen noch trinken noch atmen.
    Nur gehen.
    Einfach gehen.
    Falls ihn jemand so sehen könnte: Hielte er Tiff für einen Idioten? Vielleicht nützlich, gleichwohl Idiot?
    Seit er denken konnte, hatte er sich immer in den Dienst einer höheren Macht gestellt. Perry Rhodan, die Liga Freier Terraner, ES ... Wo blieb eigentlich er?
    Jedenfalls nicht auf der Strecke. Er ging immer weiter, und weiter, und weiter.
    Zehn Jahre, dachte er. Zehn Jahre sind nicht viel. Ein solcher Zeitraum rauscht nur so vorbei, das kennst du doch.
    Wenn man verliebt ist oder voller Hass. Weil man verkannt oder verlassen wurde. Wenn Kinder heranwachsen. Meine Güte, wie die Zeit vergeht!
    Zehn Jahre sind praktisch nichts. Und mach zehnmal zehn, dann sind es schon hundert. Ebenfalls ein Klacks. Mach zehnmal hundert ...
    So hangeln wir uns weiter. Schritt für Schritt für Schritt.
    *
    Jedes Skelett begrüßte er wie einen alten Freund.
    Tiff wusste, dass Duleymons Vorfahren Späher ausgeschickt hatten. Sie waren allesamt gestorben, genauso wie die Roboter, deren Überreste er immer häufiger zur Seite schieben musste, einige hundert oder tausend oder hunderttausend Kilometer tiefer, etliche Jahrzehnte weiter unten.
    So ging er weiter, in einem Zustand zwischen Trance und Delirium, den er seinem bösesten Feind nicht wünschen würde. Die Tagmahre verfolgten ihn, hässliche, ins Monströse verzerrte Erinnerungen. Nia, Zhanauta ... Aber Tiff ignorierte sie, schob sie beiseite und ging weiter, weiter geradeaus, weiter hinab.
    Manchmal beobachtete er tagelang seine Stiefelspitzen. Manchmal brüllte er wochenlang seine Verzweiflung hinaus und wurde doch nicht heiser. Ah, die Vitalenergie ... Manchmal spukte ihm jahrelang dieselbe Melodie im Kopf herum.
    Manchmal dachte er, er wäre tot. Es fühlte sich wattig an.
    In lichteren Phasen fand er Gefallen an dieser Wanderung. Fast genoss er die Isolation. Dies, dieser Gang, gehörte ihm allein. Niemand mischte sich ein.
    Niemand störte.
    Das Leben war einfach: gehen und wie von jemand anderem gegangen werden.
    Toll!
    *
    Längst hatte Tiff nicht mehr die geringste Ahnung, wie weit es noch war. Wie lange noch. Wo, wann in der Ährenspindel er in gleichmäßigem, idealem Tempo dahinging.
    Mit jedem Schritt näherte er sich dem zweiten Zeitkorn. Mit jedem Schritt entfernte er sich ein kleines Stück von dem Menschen, der er einmal gewesen war.
    Für ein paar unwesentliche Jahrtausende.
    Eine Weile führte er Selbstgespräche, hitzige Debatten über dies und das. Ein Teil seiner Persönlichkeit wurde vergesslich und störrisch, stritt mit dem anderen, unterstellte ihm, die gemeinsamen Erinnerungen zu verfälschen.
    Ein Dritter musste eingreifen und zwischen ihnen vermitteln. Ein Vierter überzeugte sie schließlich, dass sie allesamt bedenkliche Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie darstellten und die Selbstgespräche besser wieder beendeten.
    Das sah er ein.
    So oder so, wenn er am Ende des Tunnels herauskam, würde er ein anderer geworden sein. Das spürte Julian Tifflor.
    Aber es kümmerte ihn immer weniger.

Zwischenspiel:
    Eine dünne Spur
     
    Mikru, der weibliche Avatar des Obeliskenraumers, erschien und beklagte sich.
    »Ständig werden konstitutive Strukturen meines Basisaufbaus verletzt«, sagte sie, die

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